Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. sachlicher Zusammenhang. Handlungstendenz. retrograde Amnesie nach Zusammenstoß mit anderem Kfz. Verkehrsverstoß. richterliche Überzeugungsbildung. Wahlfeststellung: Weg zum Tätigkeitsort bzw zur ständigen Familienwohnung. Arbeitsunfall. Versicherter Weg. Dienstversammlung
Leitsatz (amtlich)
1. Zur richterlichen Überzeugungsbildung hinsichtlich des sachlichen Zusammenhangs zwischen versicherter Tätigkeit und dem Zurücklegen eines Weges bei einem Wegeunfall mit anschließender retrograder Amnesie der Versicherten.
2. Zur Wahlfeststellung zwischen § 8 Abs 2 Nrn 1 und 4 SGB 7.
Orientierungssatz
Verbotswidriges Handeln schließt nach § 7 Abs 2 SGB 7 auch den Versicherungsschutz nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB 7 nicht aus. Dennoch gibt es Fallkonstellationen, in denen im Zusammenhang mit einem Normverstoß der Unfallversicherungsschutz zu verneinen ist.
Normenkette
SGB VII § 8 Abs. 1, 2 Nrn. 1, 4, § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 7 Abs. 2
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Gießen vom 24. Februar 2011 und des Bescheides der Beklagten vom 30. Januar 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 2008 festgestellt, dass das Ereignis vom 6. Dezember 2007 ein Arbeitsunfall gewesen ist.
II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Anerkennung eines Ereignisses als Arbeitsunfall.
Die Klägerin arbeitete ab dem Jahr 2000 als Altenpflegerin in dem Alten- und Pflegeheim C.-Haus in B-Stadt. Im Jahre 2002 zog sie mit ihrem damaligen Freund und heutigem Ehemann, dem Zeugen A., in eine Wohnung in A-Stadt, die etwa 55 Kilometer von dem Heim entfernt ist. Die Mutter des Zeugen A., die Zeugin A., wohnte ebenfalls in diesem Haus. Im Jahr 2003 mietete die Klägerin daneben eine 52 qm große Wohnung in dem etwa 5 Kilometer von dem Heim entfernten B-Stadt-C-Stadt an, um ihren Arbeitsweg - zunächst zur Berufsschule in D-Stadt, anschließend zum Nachtdienst in B-Stadt - zu verkürzen. Ihren ersten Wohnsitz hatte die Klägerin in der Wohnung in B-Stadt-C-Stadt gemeldet. Seit dem Jahr 2004 war sie als Nachtschwester in Dauernachtwache tätig. Im Regelfall folgte auf etwa eine Woche Nachtschicht eine Woche Freizeit. In der Zeit, in der die Klägerin Nachtschicht hatte, wohnte sie in der Wohnung in B-Stadt-C-Stadt, im Übrigen in der Wohnung in A-Stadt.
Durch Aushang am schwarzen Brett wurden alle Mitarbeiter(innen) des Alten- und Pflegegeheimes zu einer Dienstversammlung am Donnerstag, den 6. Dezember 2007, ab 13.00 Uhr mit Anwesenheitspflicht für alle, eingeladen. Mitarbeiter, die nicht an der Dienstübergabe Frühdienst-Spätdienst beteiligt waren, mussten erst um 14.00 Uhr anwesend sein. Die Klägerin bekundete unter anderem gegenüber ihrer Kollegin, der Zeugin D., und dem Zeugen A., zur Dienstversammlung erscheinen zu wollen. Sie hatte bis zum 5. Dezember 2007 frei und befand sich daher zu dieser Zeit in ihrer Wohnung in A-Stadt. Am 6. Dezember 2007 hätte gegen 20.45 Uhr ihr Nachtdienst begonnen.
Am 6. Dezember 2007 wollte sich die Klägerin gegen 12.30 Uhr von der Zeugin A., der Mutter ihres Freundes, verabschieden, führte dann aber noch ein längeres Gespräch mit dieser, dessen Ende nicht bekannt ist. Anschließend fuhr sie mit ihrem Auto von der Wohnung in A-Stadt aus los.
Gegen 15.20 Uhr befuhr sie die Bundesstraße 49, kam zwischen den Anschlussstellen S. und L. in Fahrtrichtung L. bei starkem Regen und schlechter Sicht im Überholverbot auf die Gegenfahrbahn und stieß mit einem anderen Kraftfahrzeug frontal zusammen. Hierbei erlitt sie unter anderem verschiedene Frakturen im Bereich der Lendenwirbelsäule sowie Skalpierungsverletzungen und eine Hirnkontusion. Die Klägerin wurde mit dem Notarztwagen in die Universitätsklinik A-Stadt und E-Stadt gebracht. Im Notarztprotokoll wurde bei ihr unter anderem eine Amnesie vermerkt. Bei Aufnahme in die Universitätsklinik bestand kein Verdacht auf Alkohol-, Drogen- oder Medikamenteneinfluss. Es wurde zudem eine retrograde Amnesie festgestellt. Etwa zum Zeitpunkt des Unfalles - gegen 15.20 Uhr - endete auch die Dienstversammlung.
Ein gegen die Klägerin eingeleitetes staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung (2 Js 50948/08 VU) wurde nach § 153b Strafprozessordnung (StPO) i. V. m. § 60 Strafgesetzbuch (StGB) eingestellt.
Mit Schreiben vom 24. Januar 2008 teilte der Arbeitgeber der Klägerin der Beklagten mit, dass der Dienst der Klägerin am Unfalltag um 20.30 Uhr begonnen hätte. Es sei bekannt, dass der Freund der Klägerin in A-Stadt lebe und sie folglich oft zwischen ihrem Wohnort in C-Stadt und A-Stadt pendle. Da der Unfall am Nachmittag, also während der Freizeit, passiert sei, habe keine Veranlassung für eine Unfallmeldung bestanden.
Mit Bescheid vom 30. Januar 2008 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 6. Dezember 2007 als Arbei...