Rz. 20
Grundsätzlich kann bei Beratungsfehlern ein Schadensersatzanspruch aufgrund Amtshaftung, bestehen (Art. 34 GG, § 839 BGB). Dieser ist auf Schadensersatz in Geld ohne Neugestaltung des Sozialrechtsverhältnisses gerichtet. Eine Neugestaltung kann ja gerade deswegen nicht verlangt werden. Aufgrund der Rechtsprechung des BSG gelten im Grundsatz folgende Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen, dem Schadenersatzanspruch vorhergehenden Herstellungsanspruch als verschuldensunabhängiges sekundäres Recht (vgl. BSG, Urteile v. 14.2.1989, 7 RAr 18/87, und v. 24.7.2003, B 4 RA 13/03 R m. w. N.):
- Den Leistungsträger trifft eine gesetzliche oder aus einem bestehenden Sozialrechtsverhältnis resultierende Pflichtverletzung (objektive Rechtswidrigkeit oder Schlechterfüllung), die dem Leistungsträger (einem anderen Organ oder einem anderen beauftragten Leistungsträger) gerade gegenüber dem Anspruchsteller oblag (z. B. aufgrund eines Antrages oder einer konkreten Anfrage); das ist bei Sozialleistungsträgern nicht hinsichtlich sozialer Rechte aufgrund außerhalb des SGB existierender Sicherungssysteme der Fall, es sei denn, dafür liegt eine ausdrückliche gesetzliche Anordnung vor (z. B. § 15 Abs. 4).
- Die Pflichtverletzung muss als nicht hinwegdenkbare Bedingung zumindest gleichwertig neben anderen Bedingungen ursächlich einen Nachteil für den Betroffenen bewirkt haben.
- Die verletzte Pflicht muss darauf gerichtet sein, den Betroffenen gerade vor den eingetretenen Nachteilen zu bewahren, ihn also so zu stellen, wenn er fehlerfrei betreut worden wäre. Es muss also ein Schutzzweckzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Nachteil i. S. eines inneren Zusammenhanges bestehen (vgl.BSG, Urteil v. 15.12.1994).
- Der Nachteil muss durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können, die Korrektur also mit dem jeweiligen Gesetzeszweck in Einklang stehen. Tatsächliche Umstände, die nur durch den Beratungsberechtigten herbeigeführt werden können, können nicht ersetzt werden. In diesem Sinne wären begünstigende Amtshandlungen unzulässig. Durch die Vornahme einer Amtshandlung des Trägers muss also ein Zustand hergestellt werden können, der bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht begangen worden wäre (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 27.12.2016, L 1 KR 315/15, unter Hinweis auf BSG, Urteil v. 27.6.2012, B 12 KR 11/10 R).
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist kein Rechtsmittel i. S. d. § 839 Abs. 3 BGB (BGH, Urteil v. 4.7.2013, III ZR 201/12).
Rz. 21
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt kein Verschulden des Sozialleistungsträgers voraus. Das ergibt sich aus dem System des öffentlich-rechtlichen Nachteilsausgleichs. Dieses System enthält verschiedene Bausteine, insbesondere die Rücknahme belastender Verwaltungsakte und die Verpflichtung zur Neufeststellung bei fehlerhaften Leistungsbescheiden, den Amtshaftungsanspruch, den Folgenbeseitigungsanspruch und den Herstellungsanspruch. Verschulden ist indes nur bei – anders als den Rechtsinstituten zum Ausgleich von Verwaltungsunrecht – vollem Schadensersatz nach § 839 BGB vorgesehen. Beim Herstellungsanspruch geht es nur um die Herstellung oder Wiederherstellung des gesetzmäßigen oder eines den gesetzlichen Zielen entsprechenden Zustandes, der ohne rechtwidriges Verhalten der Behörde bestanden hätte. Korrigiert wird – anders als beim Folgenbeseitigungsanspruch – unterlassenes oder fehlerhaftes schlichtes Verwaltungshandeln (im Rahmen der Daseinsfürsorge). Dem entspricht verfassungsrechtliches Gedankengut, das dem Bürger nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat einräumt, sondern erworbene Ansprüche auf Sozialleistungen dem Eigentumsschutz unterstellt. Insofern ist der Herstellungsanspruch als Weiterentwicklung des Folgenbeseitigungsanspruches anzusehen. Von Schadensersatz kann schon deshalb keine Rede sein, weil es an einem Interessengegensatz zwischen Behörde und Bürger fehlt. Die Verletzung der Beratungs- und Belehrungspflichten der Sozialversicherungsträger führt dazu, dass diese, soweit ihnen eine dem Gesetz entsprechende Amtshandlung möglich ist, verpflichtet sind, den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn die Beratungs- und Belehrungspflicht erfüllt worden wäre (BSG, Urteil v. 18.2.1982, 7 RAr 92/80). Spezielle gesetzliche Regelungen verdrängen den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch als richterrechtlich entwickeltes Rechtsinstitut und damit sekundäres Recht.
Rz. 21a
In Fällen des § 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III (Zulassung nachträglicher Antragstellung bei unbilliger Härte) muss nicht auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zurückgegriffen werden.
Rz. 21b
Will der Versicherte auf der Grundlage eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches einen früheren Rentenbeginn erreichen, so muss er eine Pflichtverletzung des Rentenversicherungsträgers nachweisen. Aus der Pflicht zur Spontanberatung nach § 115 Abs. 6 SGB VI resultiert eine Hinweispflicht des Rentenversicherungsträgers nicht nur ohne ein konkretes Beratungsersuchen, sondern auch ohne...