Rz. 10
Die Verjährung beseitigt nicht den Anspruch als solchen, sondern gibt dem Verpflichteten lediglich das Recht, unter Berufung auf die eingetretene Verjährung (Einrede) die Leistung (Erfüllung) dauerhaft zu verweigern (§ 214 Abs. 1 BGB). Leistet der Verpflichtete trotz der an sich eingetretenen Verjährung, kann er keine Rückerstattung verlangen (§ 214 Abs. 2 BGB). Im Prozess ist die Verjährung grundsätzlich nur auf die Einrede des Verpflichteten hin zu beachten. Die Erhebung der Einrede der Verjährung ist kein Verwaltungsakt, sondern schlichtes Verwaltungshandeln in Form der Ausübung allgemeiner Gestaltungsrechte (so auch E. Jung in: Wannagat, SGB I, § 45 Rz. 11; Mrozynski, SGB I, 5. Aufl., § 45 Rz. 4). Daher kann die Erhebung der Einrede der Verjährung auch nicht eigenständig angefochten werden. Der Sozialleistungsberechtigte hat vielmehr eine echte Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) zu erheben, wenn der Sozialleistungsträger sich auf die Verjährung der Leistungsansprüche beruft.
Rz. 11
Die Erhebung der Einrede steht nach der Rechtsprechung im pflichtgemäßen Ermessen (§ 39) des zur Leistung verpflichteten Leistungsträgers (BSG, Urteil v. 23.10.1975, 11 RA 152/74; vgl. auch Spiolek, BB 1998 S. 533). Insbesondere ist die Berufung auf die Verjährung als Ermessensentscheidung zu begründen (vgl. BSG, Urteil v. 22.10.1996, 13 RJ 17/96). Die Berufung auf die Verjährung ist dabei nicht schon für sich ermessensfehlerhaft, selbst wenn sich durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine andere Rechtslage ergibt. Der Leistungsträger darf dabei jedoch nicht gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen, sonst ist die Einrede der Verjährung unbeachtlich und ermessensfehlerhaft ausgeübt. Dies wird insbesondere in den Fällen zu gelten haben, in denen der Leistungsträger den Betroffenen an der Durchsetzung seiner Ansprüche gehindert hat; z. B. durch falsche und fehlerhafte Information oder Beratung (zur Bedeutung einer Betriebsprüfung ohne Beanstandung der Beitragszahlung vgl. Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil v. 28.1.2011, L 3 AL 6/10). Allerdings ist der Sozialleistungsträger im Rahmen seines Ermessens regelmäßig – d. h. wenn keine besonderen Umstände vorliegen – gehalten, die Verjährungseinrede zu erheben. Dies entspricht dem Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit bei der Mittelverwendung (§ 76 SGB IV).
Rz. 12
Die Verjährung setzt das Bestehen eines zu erfüllenden Leistungsanspruchs notwendig voraus. Der Eintritt der Fälligkeit (§ 41) des Erfüllungsanspruchs ist, anders als nach § 201 BGB, nicht ausdrücklich erforderlich (a. A. Mrozynski, SGB I, 5. Aufl., § 45 Rz. 11). Das Entstehen des Anspruchs bedeutet, dass damit auch das Forderungsrecht gemeint ist, was die Fälligkeit des konkreten Anspruchs mit einschließt und mit dem sog. Stammrecht, das als solches keinen Anspruch darstellt, nicht identisch ist. Entsteht ein Leistungsanspruch überhaupt erst durch Antragstellung (materiellrechtliche Wirkung des Antrags; vgl. Komm. zu § 40), besteht für die Zeit vor der Antragstellung schon kein Anspruch, der verjähren könnte.
Rz. 13
Von der Verjährungsfrist sind die Ausschlussfristen (vor allem die 4-Jahres-Frist in § 44 Abs. 4 SGB X, die 4-jährige Antragsfrist des § 147 Abs. 2 SGB III oder die 2-monatige Antragsfrist des § 325 Abs. 3 SGB III) zu unterscheiden. Der Ablauf einer Ausschlussfrist beseitigt den ausgeschlossenen Anspruch und ist von Amts wegen und nicht erst auf Einrede hin zu beachten, die Hemmungs- und Unterbrechungsvorschriften des BGB finden grundsätzlich keine Anwendung (BSG, Urteil v. 28.11.1973, 4 RJ 159/72). Ob, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang in diesen Fällen Wiedereinsetzung gewährt werden kann, bestimmt sich nach § 27 SGB X.
Rz. 14
Des weiteren sind Verjährung und Verwirkung auseinander zu halten. Die Frage der Verwirkung stellt sich bereits vor Eintritt der Verjährung und führt zum Verlust des Anspruchs, nicht lediglich zu einer Einrede. Die Verwirkung ist, als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auch für das Sozialrecht anerkannt. Bei der Verwirkung entfällt die Leistungspflicht, wenn der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes die verspätete Geltendmachung des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung auslösenden Umstände liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ...