Entscheidungsstichwort (Thema)
Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Keine Pflichtverletzung durch Erstattung einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Interessenabwägung bei Kündigungen. Anforderungen an eine betriebsbedingte Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG. Gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Antrag des Arbeitnehmers. Auflösungsgründe i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG. Verständnis einer "gedeihlichen Zusammenarbeit" i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG
Leitsatz (amtlich)
1. Die Erstattung einer Strafanzeige ohne vorherigen Versuch einer innerbetrieblichen Klärung stellt regelmäßig keine Pflichtverletzung dar, wenn mit einer neutralen, unvoreingenommenen Aufarbeitung der Vorgänge innerhalb des Betriebs oder Unternehmens nicht zu rechnen ist, weil sich beispielsweise die Vorwürfe direkt gegen den Arbeitgeber oder seine Repräsentanten richten.
2. Das Arbeitsverhältnis kann auf Antrag des Arbeitgebers gegen Zahlung einer Abfindung aufzulösen sein, wenn das Verhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber oder seinen Repräsentanten durch eine persönliche Feindschaft oder einen persönlichen Machtkampf geprägt ist und die Unternehmensinteressen nicht mehr im Vordergrund stehen.
Leitsatz (redaktionell)
1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.
2. Die Einschaltung der Staatsanwaltschaft durch einen Arbeitnehmer wegen eines vermeintlich strafbaren Verhaltens des Arbeitgebers oder seiner Repräsentanten stellt als Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte - soweit nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden - im Regelfall keine eine Kündigung rechtfertigende Pflichtverletzung dar.
3. Bei der Prüfung im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der - fiktiven - Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen.
4. Dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG liegen vor, wenn die Umsetzung einer unternehmerischen (Organisations-)Entscheidung auf der betrieblichen Ebene spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist zu einem voraussichtlich dauerhaften Wegfall des Bedarfs an einer Beschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers führt. Diese Prognose muss schon im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung objektiv berechtigt sein.
5. Als Auflösungsgründe kommen Umstände in Betracht, die das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, eine Wertung seiner Persönlichkeit, Leistung oder Eignung für die ihm übertragenen Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen. Entscheidend ist, ob die objektive Lage bei Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz die Besorgnis rechtfertigt, eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit sei gefährdet.
Normenkette
BGB § 626; KSchG §§ 1, 9 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Stralsund (Entscheidung vom 09.11.2022; Aktenzeichen 11 Ca 167/22) |
Tenor
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund (Kammern Neubrandenburg) vom 09.11.2022 - 11 Ca 167/22 - wird ebenso zurückgewiesen wie die Berufung der Klägerin gegen das Ergänzungsurteil des Arbeitsgerichts Stralsund (Kammern Neubrandenburg) vom 20.01.2023 unter demselben Aktenzeichen.
Zur Klarstellung werden die erstinstanzlichen Entscheidungen wie folgt zusammengefasst:
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien weder durch die außerordentliche noch durch die ordentliche Kündigung vom 02.06.2022 beendet worden ist.
2. Auf Antrag des Beklagten wird das Arbeitsverhältnis der Parteien gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von € 9.000,00 brutto zum 31.07.2022 aufgelöst.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung, einer ordentlichen betriebsbedingten und einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung sowie über die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung.
Der Beklagte ist ein gemeinnütziger Verein, der mit Satzung vom 03.05.2005 gegründet wurde, und sich um Kinder und Jugendliche mit besonderem Betreuungsbedarf kümmert. Es handelt sich dabei insbesondere um Kinder und Jugendliche mit Missbrauchserfahrungen, aus prekären Verhältnissen, mit Gewaltbereitschaft etc. Die Dienstleistung wird aus öffentlichen Mitteln mit bis zu € 9.500,00 monatl...