Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufung gegen ein nicht mit Gründen versehenes Urteil. Ermessensspielraum der Betriebsparteien bei der Mittelverteilung im Sozialplan. Rechtfertigung für Ungleichbehandlung wegen Alters in Sozialplanregelungen
Leitsatz (amtlich)
Eine Abfindungsregelung in einem Sozialplan, die für die Arbeitnehmer, die vor Stichtag das 62. Lebensjahr vollendet haben und die nach dem 24-monatigen Bezug von Arbeitslosengeld I entweder eine vorzeitige Altersrente mit Abschlägen oder die Regelaltersrente in Anspruch nehmen können, eine Kürzung der Standardabfindung auf ¼ vorsieht, stellt eine zulässige unterschiedliche Behandlung wegen des Alters nach § 10 Nr. 6 AGG dar. Die Betriebsparteien haben dabei die Höhe der den betroffenen Arbeitnehmern konkret zustehende Altersrente nicht zu berücksichtigen.
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein sogenanntes "Urteil ohne Gründe" des Arbeitsgerichts liegt vor, wenn es erst fünf Monate nach Verkündung in schriftlicher Form abgesetzt wurde. Wird ein Urteil nicht rechtzeitig begründet, so ist der Beschwerte verpflichtet, innerhalb von sechs Monaten ab der Verkündung Berufung einzulegen und innerhalb von sieben Monaten ab der Verkündung die Berufung zu begründen. Dabei ist ausreichend, wenn in der Berufungsbegründung nur gerügt wird, dass das Urteil nicht innerhalb von fünf Monaten begründet worden ist.
2. Bei einem Sozialplan gilt es, ein begrenztes Volumen zu verteilen. Die Betriebsparteien müssen die zur Verfügung stehenden Mittel im Hinblick auf den Ausgleich künftiger Nachteile der Arbeitnehmer, die von der Betriebsänderung betroffen sind, optimieren und darauf achten, dass keine Gruppe übermäßig bevorzugt wird (Verteilungsgerechtigkeit). Ob und welche Nachteile ganz oder teilweise ausgeglichen und welche lediglich gemildert werden sollen, liegt ebenfalls im Ermessen der Betriebsparteien.
3. Die Nachteile des Arbeitsplatzverlusts sind bei Arbeitnehmern, die wirtschaftlich abgesichert sind, weil sie gegebenenfalls nach dem Bezug von Arbeitslosengeld gesetzliche Altersrente in Anspruch nehmen können, geringer, als bei den von längerer Arbeitslosigkeit bedrohten "rentenfernen" Arbeitnehmern. Insoweit lässt § 10 S. 3 Nr. 6 AGG eine altersbedingte Differenzierung bei der Mittelverwendung zu.
Normenkette
AGG § 10 Sätze 2, 3 Nr. 6; ArbGG § 66 Abs. 1 S. 2; BetrVG § 112 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Bayreuth (Entscheidung vom 16.12.2021; Aktenzeichen 5 Ca 86/21) |
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Arbeitsgerichts Bayreuth vom 16.12.2021 - Az.: 5 Ca 86/21 - wird auf Kosten des Berufungsklägers zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch über die Höhe der dem Kläger aus dem Sozialplan vom 13.01.2021 zustehenden Abfindung.
Der am 16.12.1958 geborene Kläger war seit 02.01.1995 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Knüpfer zu einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt in Höhe von EUR 2.494,79 beschäftigt. Mit Schreiben vom 25.01.2021 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers ordentlich zum 31.08.2021. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.08.2021 steht mittlerweile rechtskräftig fest.
Die Beklagte und der bei ihr gewählte Betriebsrat schlossen am 13.01.2021 einen Sozialplan zur Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die den Arbeitnehmern, die aufgrund der im Interessenausgleich vom 13.01.2021 beschriebenen Maßnahmen betroffen sind, entstehen.
"§ 3 Abfindungen" des Sozialplanes lautet auszugsweise:
(1) Erfasste Arbeitnehmer erhalten zum Ausgleich des Verlustes des Arbeitsplatzes eine Brutto-Abfindung gemäß den nachfolgenden Regelungen, soweit nachfolgend nicht etwas Abweichendes geregelt ist.
(2) Die Höhe der Abfindung berechnet sich wie folgt:
Betriebszugehörigkeit x Bruttomonatsverdienst x 0,6 x Altersfaktor
Die Betriebspartner vereinbaren folgende Altersfaktoren:
• bis zur Vollendung des 61. Lebensjahres: 1,0
• ab Vollendung des 62. Lebensjahres: 0,25
Bis zur Vollendung des 61. Lebensjahres beträgt die Abfindung jedoch höchstens EUR 70.000,00 (brutto), ab Vollendung des 62. Lebensjahres beträgt die Abfindung höchstens EUR 35.000,00 (brutto). Darüber hinausgehende Beträge werden gekappt (Höchstbeträge).
Der Sozialplan trat am 13.01.2021 in Kraft.
Nachdem der Kläger zum Stichtag das 62. Lebensjahr vollendet hatte, errechnete die Beklagte dessen Abfindung mit einem Altersfaktor 0,25. Dies ergab eine Abfindung in Höhe von EUR 9.249,21. Die Regelaltersrente kann der Kläger ab 01.01.2025 beanspruchen. Laut der von ihm selbst vorgelegten Rentenauskunft weist der Kläger eine Wartezeit von 516 Monaten und damit 43 Jahren auf und kann als langjährig Versicherter eine vorgezogene Altersrente mit Abschlägen ab dem 63. Lebensjahr, d. h. ab 01.01.2022 beanspruchen.
Der Kläger ist der Ansicht, dass die Regelung in § 3 Abs. 2 des Sozialplanes altersdiskriminierend und auch nicht nach § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG gerechtfertigt sei. Es bestünde keine rechtliche Bewertungsgrundlage, dass der...