Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Erwerbsfähigkeit eines vor Spracherwerb ertaubten Menschen. Verweisungstätigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Nur unter betriebsunüblichen Bedingungen kann ein vor Spracherwerb ertaubter Mensch arbeiten, der nur bei extrem langsamer Sprechgeschwindigkeit von den Lippen ablesen und nur sehr stark verwaschen sprechen kann.
2. Eine konkrete Verweisungstätigkeit kann nicht benannt werden, da jede Tätigkeit in einem Betrieb ein Mindestmaß an Kommunikationsfähigkeit - auch bereits für die Einweisung in die Arbeit - voraussetzt.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 4. Februar 2016 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Der 1957 geborene Kläger ist aufgrund einer im Alter von neun Monaten durchgemachten Meningitis ertaubt und besitzt eine Sprachkompetenz eines vor Spracherwerb Ertaubten. Ihm ist deshalb ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt worden (Bescheid des Versorgungsamtes Freiburg vom 1. April 1980). Der Kläger absolvierte von September 1973 bis Januar 1978 eine Ausbildung zum Fliesenleger und besuchte daneben die Sonderberufsschule für hörgeschädigte Jugendliche. Er war anschließend bei der Ausbildungsfirma als Fliesenleger beschäftigt. Am 6. September 2011 erlitt er bei einem Arbeitsunfall Verletzungen insbesondere am Brustkorb und an der rechten Schulter. In der Folge bezog er bis 4. März 2013 Verletztengeld sowie bis 31. August 2014 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H.
Der Kläger beantragte am 25. September 2012 Rente wegen Erwerbsminderung und wies dabei auf Gehörlosigkeit und schwere Sprachstörungen hin. Die Beklagte ließ den Kläger durch den Facharzt für Orthopädie Dr. N. untersuchen und begutachten. Aufgrund einer Untersuchung am 20. November 2012 diagnostizierte Dr. N. eine Schultereckgelenksarthrose bei Zustand nach ACG-Sprengung und Zügelungs-OP rechts, ein chronisches Thoraxsyndrom bei Zustand nach Rippenserienfraktur und Plattenosteosynthese bei Zustand nach Pseudoarthrose der vierten Rippe links, ferner BWS-Schmerzen, eine beginnende Gonarthrose links und eine Gonalgie rechts. Eine Tätigkeit als Fliesenleger sei nicht mehr zumutbar. Leichte bis mittelschwere Arbeiten mit qualitativen Leistungseinschränkungen seien vollschichtig möglich. Die Beratungsärztin der Beklagten Dr. T. nahm unter dem 30. November 2012 dahingehend Stellung, dass dem Kläger Tätigkeiten mit Anforderungen an das Gehör nicht möglich seien, da er gehörlos sei. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten seien unter Beachtung weiterer qualitativer Einschränkungen vollschichtig möglich. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Fliesenleger sei nur unter dreistündig zu verrichten. Aufgrund der Einschränkung des Versicherten und der aufgrund der Gehörlosigkeit schwierigen Einarbeitung in eine für den Versicherten ganz neue Tätigkeit schlug die Sachbearbeiterin vor, dem Kläger eine teilweise Erwerbsminderungsrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Dem kam die Beklagte nach und bewilligte mit Rentenbescheid vom 21. Dezember 2012 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 1. September 2012, die jedoch nicht auszuzahlen sei. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bestehe nicht. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Seit dem Arbeitsunfall sei ihm eine körperlich anstrengende Arbeit schmerzfrei nicht mehr möglich. Zudem sei es schon vor dem Unfall schwierig gewesen, aufgrund seines Handicaps eine Arbeitsstelle zu finden, selbst wenn es um eine Stelle in derselben Branche gegangen sei. Zudem wies der Kläger darauf hin, dass er ab dem 5. März 2013 kein Verletztengeld mehr erhalte. Mit Rentenbescheid vom 27. Februar 2013 berechnete die Beklagte die Rente neu und zahlte sie aus. Die Beratungsärztin der Beklagten Dr. T. führte aus, dass die orthopädisch zu beurteilenden Erkrankungen keine Erwerbsminderung begründeten. Bezüglich der Taubstummheit sei zu beachten, dass der Kläger jahrelang in das Erwerbsleben voll integriert gewesen sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 2013 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Gehörlosigkeit alleine stelle keine schwere spezifische Leistungseinschränkung dar. Hierdurch seien lediglich Tätigkeiten ausgeschlossen, die eine uneingeschränkte Kommunikationsfähigkeit erforderten. Außerdem bestehe ein Restleistungsvermögen nicht nur für leichte, sondern auch für mittelschwere Tätigkeiten, sodass davon ausgegangen werden könne, dass eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden sei.
Der Kläger hat am 9. August 2013 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Er hat die Auffassung vertreten, dass eine schwere spezifische Behinderung vorliege, die auch die Einarbeitung in eine neue Tätigkeit derart erschwere, dass di...