Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Gleichstellung. Geeignetheit des Arbeitsplatzes bei bestehenden Beeinträchtigungen. Rehabilitationsleistung. behindertengerechte Ausstattung. Behaltenkönnen des Arbeitsplatzes. keine konkrete Arbeitsplatzgefährdung erforderlich

 

Orientierungssatz

1. Für die Bejahung der Geeignetheit des Arbeitsplatzes iS des § 2 Abs 3 SGB 9 genügt es, dass der behinderte Mensch durch Leistungen zur Rehabilitation oder eine vom Arbeitgeber zur Verfügung zu stellende behindertengerechte Ausstattung des Arbeitsplatzes (hier ua Elektroseilwinde und motorische Unterstützung zum erleichterten Heben und Tragen) in die Lage versetzt werden kann, diesen vollständig auszufüllen.

2. Im Hinblick auf das Behaltenkönnen des Arbeitsplatzes reicht es aus, dass mittels einer Gleichstellung der Arbeitsplatz (zB durch den besonderen Kündigungsschutz) sicherer gemacht werden kann (vgl BSG vom 2.3.2000 - B 7 AL 46/99 R = BSGE 86, 10 = SozR 3-3870 § 2 Nr 1). Eine darüber hinausgehende konkrete Gefährdung des Arbeitsplatzes durch eine bereits im Raum stehende oder zumindest angedrohte Kündigung des Arbeitgebers, ist demgegenüber nicht zu fordern (entgegen LSG Stuttgart vom 18.1.2011 - L 13 AL 3853/10; vgl auch LSG Schleswig vom 14.12.2012 - L 3 AL 36/11 und LSG Essen vom 12.4.2010 - L 19 AL 51/09).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 06.08.2014; Aktenzeichen B 11 AL 16/13 R)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 16.12.2011 aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 24.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.05.2011 verpflichtet, den Kläger einem schwerbehinderten Menschen gleichzustellen.

Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die vom Kläger begehrte Gleichstellung mit einem behinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).

Der 1957 geborene Kläger steht seit Oktober 1987 in einem Vollzeitarbeitsverhältnis als Lagerarbeiter bei der Firma R. L. GmbH (nachfolgend: R.) in R. Mit Bescheid des L. S.-B.-K. vom 15.09.2006 wurde ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 seit 27.06.2006 festgestellt. Diese Entscheidung wurde auf folgende Funktionsbeeinträchtigungen gestützt: Bronchialasthma, Schlafapnoe-Syndrom, Atembehinderung bei Verengung des Nasenganges, Kopfschmerzsyndrom, Schwindel, Reizmagen, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und Nervenwurzelreizerscheinungen.

Am 08.11.2011 stellt er bei der Beklagten einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen nach § 2 Abs. 3 SGB IX. Er gab an, seine derzeitige Tätig könne er mit behinderungsbedingten Einschränkungen weiterhin ausüben. Er dürfe aber nicht mehr schwer heben; deshalb halte er seinen Arbeitsplatz für stark gefährdet. Das Arbeitsverhältnis sei allerdings ungekündigt; über einen besonderen Kündigungsschutz verfüge er nicht. Auf Anfrage der Beklagten teilte die Firma R. mit Antwortschreiben vom 30.11.2010 mit, der Kläger übe überwiegend eine Umspultätigkeit aus. Bestehende gesundheitliche Einschränkungen des Klägers seien bekannt und wirkten sich durch häufige Fehlzeiten aus. Eine innerbetriebliche Umsetzung des Klägers sei nicht möglich. Eine Kündigung sei nicht ausgesprochen worden; es handele sich weder aufgrund gesetzlicher noch aufgrund tariflicher Bestimmungen um ein unkündbares Arbeitsverhältnis. Zu einer Gefährdung des Arbeitsplatzes machte der Arbeitgeber keine Angaben.

Mit Bescheid vom 24.01.2011 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen ab. Die Gleichstellung diene der Erhaltung oder Erlangung eines geeigneten Arbeitsplatzes. Auf einem solchen werde der Kläger jedoch nicht beschäftigt. Ein anderer, geeigneter Arbeitsplatz stehe bei seinem Arbeitgeber - nach dessen Angaben - nicht zur Verfügung.

Mit seinem hiergegen am 03.02.2011 erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, die Voraussetzungen für die begehrte Gleichstellung lägen vor. Eine Verbesserung der Arbeitsplatzsituation des Klägers bei der Firma R. sei ohne Weiteres möglich. Auf eine weitere Anfrage der Beklagten erklärte die Firma R. mit Schreiben vom 11.03.2011, der Kläger sei als Umspuler eingesetzt, d. h. er länge Kabel nach Kundenwunsch ab und spule sie auf Trommel oder Ringe um. In der Vergangenheit habe sich der Kläger nie massiv geäußert, dass ihm diese Tätigkeit zu schwer sei. Der Kläger sei im Lagerwesen beschäftigt und deshalb immer mit Gewichten konfrontiert. Nach Auskunft des behandelnden Arztes sei die lumbale Leistungsfähigkeit aber wieder hergestellt. Seit Wiederaufnahme der Tätigkeit am 10.01.2011 sei keine Arbeitsunfähigkeit mehr eingetreten. Mit Widerspruchsbescheid vom 06.05.2011 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Eine Gleichstellung könne erst festgestellt werden, wenn der innegehaltene Arbeitsplatz konkret gefährdet sei. Eine solche Gefährdung liege i...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Haufe Kranken- und Pflegeversicherungs Office enthalten. Sie wollen mehr?