Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Kostenersatz durch Erben. Erlöschen des Kostersatzanspruchs. Hemmung des Erlöschens bei Verhandlungen. weite Auslegung des Verhandlungsbegriffs. Rückwirkung der Hemmung auf den Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs
Leitsatz (amtlich)
Der Begriff der Verhandlung, der bei einem sozialhilferechtlichen Kostenersatzanspruch gem§ 102 SGB XII iVm§ 103 Abs 3 S 2 SGB XII zu einer Hemmung des Erlöschens führt, ist weit auszulegen. Es genügt bereits, wenn sich der Schuldner auf Erörterungen über die Berechtigung des Anspruchs oder dessen Umfang einlässt. Bei schwebenden Verhandlungen wirkt die Hemmung zurück auf den Zeitpunkt, in dem der Gläubiger seinen Anspruch geltend gemacht hat. Die bürgerlich-rechtlichen Verjährungsregeln sind auf das Erlöschen des Kostenersatzanspruchs sinngemäß anzuwenden. Sie müssen daher nach Sinn und Zweck des sozialhilferechtlichen Kostenersatzanspruchs inkorporiert werden.
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 23. Februar 2023 abgeändert und der Bescheid des Beklagten vom 18. Juni 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 2019 aufgehoben, soweit die Klägerin darin zu einem Kostenersatz von mehr als 102.756,95 Euro verpflichtet wird. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen ihre Inanspruchnahme zum Kostenersatz für an ihren Sohn D1 (im Weiteren: der Leistungsberechtigte) erbrachte Sozialhilfeleistungen im Zeitraum vom 19. Mai 2005 bis 31. Oktober 2014.
Der 1957 geborene und verstorbene Leistungsberechtigte, bei dem eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie (ICD-10: F20.0) bestand (Ärztliches Zeugnis des B1, O1 Psychiatrie vom 5. Januar 2000, Bl. 11/25 Bd. I Verw.-Akte), besuchte vom 5. Juni 2002 bis zum 31. Oktober 2014 den Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen in L1. Diesbezüglich erhielt er zunächst vom Landeswohlfahrtsverband B2 und im Weiteren ab dem 1. Januar 2005 von dem Beklagten (im Weiteren einheitlich: der Beklagte) Leistungen der Eingliederungshilfe (Antrag vom 10. Mai 2002, Bl. 105/108 Bd. I Verw.-Akte; ursprünglicher Bewilligungsbescheid vom 15. Mai 2002, Bl. 113/115 Bd. I Verw.-Akte). Nachdem der Leistungsberechtigte aufgrund der Auswirkungen eines Hirntumors ab dem 23. Juni 2014 arbeitsunfähig geworden war, hob der Beklagte die Gewährung von Eingliederungshilfe mit Bescheid vom 30. Oktober 2014 zum 1. November 2014 auf. Hinsichtlich der im Zeitraum von 2002 bis 2014 an den Leistungsberechtigten erbrachten Leistungen bzw. der entsprechenden Einnahmen und Ausgaben wird auf die diesbezüglichen endgültigen Jahres-Fall-Auszüge des Beklagten Bezug genommen.
Nachdem der Beklagte im Rahmen einer Datenabfrage am 27. November 2017 vom Tod des Leistungsberechtigten erfahren hatte, wandte er sich nach einer Anfrage beim zuständigen Nachlassgericht zur Erbfolge mit Schreiben vom 2. Januar 2018 und 19. Januar 2018 an die Klägerin als Erbin (Erbschein des Notariats L1 vom 12. August 2015 - Bl. 359 Verw.-Akte), wies darauf hin, dass der Leistungsberechtigte vom 5. Juni 2002 bis 31. Oktober 2014 Eingliederungshilfe erhalten habe und ein Kostenersatz der Erben nach§ 102 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) geprüft werden müsse. Der Beklagte wies weiter darauf hin, dass die Ersatzpflicht nur für die Kosten der Sozialhilfe bestehe, die innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren vor dem Erbfall aufgewendet worden seien und die einen Freibetrag von 2.454,00 Euro überstiegen, sowie dass die Ersatzpflicht des Erben zur den Nachlassverbindlichkeiten gehöre. Die Klägerin werde daher um Mitteilung gebeten, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Leistungsberechtigte Vermögenswerte hinterlassen habe und welche Nachlassverbindlichkeiten bestünden.
Nachdem auf dieses Schreiben keine Reaktion erfolgte, verpflichtete der Beklagte die Klägerin mit Bescheid vom 21. März 2018 unter Androhung eines Zwangsgeldes dazu, Auskunft über den Nachlass des Leistungsberechtigten zu erteilen und wies auch hierzu auf die von dem Leistungsberechtigten bezogenen Leistungen und die Prüfung eines Kostenersatzes hin.
Mit Widerspruchsschreiben hierzu vom 15. April 2018 führte die - von der Klägerin mit einer u.a. auch die Vertretung in Rechtsangelegenheiten erfassenden Vorsorgevollmacht bevollmächtigte - Tochter der Klägerin für diese aus, dass der Leistungsberechtigte bis zu seiner Erkrankung in den L2 Werkstätten der -Diakonie- beschäftigt gewesen sei. Für die durch ihn erbrachte Arbeitsleistung habe er lediglich einen minimalen Lohn erhalten. Leistungen wie Eingliederungs- oder Sozialhilfe habe er während seiner gesamten Beschäftigungszeit nicht erhalten. Bevor gegen die Klägerin irgendwelche weiteren Maßnahmen eingeleitet würden, werde zunächst eine genaue Aufschlüsselung der von dem Beklagten zitierten Forderungen erwartet. Vorher würden a...