Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verwertbarkeit eines psychiatrischen Gutachtens. Anwesenheit eines Dritten während der Exploration und Anamneseerhebung. nicht ausreichende Sprachkenntnisse des Probanden. Hinzuziehung eines vereidigten Dolmetschers. Rückgriff auf anwesende Familienangehörige. Ausnahme
Leitsatz (amtlich)
1. Ein psychiatrisches Gutachten ist grundsätzlich nicht verwertbar, wenn bei der Exploration und Anamneseerhebung Dritte anwesend und beteiligt waren (vgl so bereits LSG Stuttgart vom 22.9.2016 - L 7 R 2329/15 = Breith 2017, 43 = juris RdNr 50; einschränkend LSG Darmstadt vom 12.7.2021 - L 5 R 149/20 = juris RdNr 77 ff). Dies gilt unabhängig davon, ob die Sprachkenntnisse des Probanden oder der Probandin für die Exploration und Anamneseerhebung ausreichend waren.
2. Sofern die Sprachkenntnisse des Probanden oder der Probandin nicht ausreichend sind, ist ein vereidigter Dolmetscher hinzuzuziehen. Ein Rückgriff auf anwesende Familienangehörige als Dolmetscher in einer Begutachtungssituation ist nur dann unproblematisch, wenn es um einen Austausch von Informationen geht, bei denen ihrer Natur nach eine Verfälschung ausscheidet. Bei psychiatrischen Gutachten kann eine Verfälschung regelmäßig nicht ausgeschlossen werden.
3. Eine weitere Ausnahme kann nur in absoluten Ausnahmefällen anerkannt werden, beispielsweise wenn der Proband oder die Probandin während der Begutachtung auf die ständige Unterstützung einer Pflegeperson angewiesen ist.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 06.07.2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1956 geborene Klägerin zog am 19.08.1974 aus ihrem Heimatland T in die Bundesrepublik Deutschland. Sie hat keine abgeschlossene Berufsausbildung und war zuletzt als Küchenhilfe tätig. Die Klägerin ist seit dem 17.10.2014 arbeitsunfähig und arbeitslos und bezog zunächst Arbeitslosengeld von der Agentur für Arbeit und seit dem 15.09.2016 Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II.
Sie beantragte am 25.09.2018 bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Die Beklagte zog medizinische Behandlungsberichte sowie ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg aufgrund einer ambulanten Begutachtung der Klägerin am 11.11.2014 bei und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 04.12.2018 ab. Aus den beigezogenen medizinischen Unterlagen ergebe sich eine Minderbelastbarkeit des linken Ellenbogens bei degenerativen Veränderungen sowie ein Bluthochdruck. Diese Einschränkungen führten jedoch noch nicht zu einem Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin erhob hiergegen am 11.12.2018 Widerspruch und führte zur Begründung aus, dass die Klägerin an einem komplexen Krankheitsbild leide. Die erheblichen Schmerzen im Wirbelsäulen- und Schulterbereich verursachten bereits beim Tragen von leichtesten Gegenständen Schmerzen. Auch das linke Knie sei schmerzhaft und die Gehstrecke erheblich eingeschränkt. Die chronische Entzündung in nahezu allen Gelenken führte ebenfalls zu starken Schmerzen. Die Klägerin sei sozial isoliert und verlasse kaum das Haus. Auch leide die Klägerin unter Trockenheit der Augen und sehe schwarze Punkte. Die kognitive Leistungsfähigkeit sei eingeschränkt.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchbescheid vom 16.05.2019 zurück. Die Klägerin sei unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsstörungen noch in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes 6 Stunden arbeitstäglich und mehr zu verrichten.
Der Prozessbevollmächtigte hat am 29.05.2019 Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben und hat zur Begründung auf das Vorbringen im Widerspruchsverfahren verwiesen. Die Klägerin sei infolge der Erkrankungen und Gebrechen nicht mehr in der Lage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter betriebsüblichen Bedingungen einer geregelten Erwerbstätigkeit für die Dauer von zumindest 3 Stunden pro Tag nachzugehen.
Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen.
Der C hat in seiner schriftlichen Zeugenaussage vom 28.08.2019 von einer ängstlich-depressiven Störung und Spannungskopfschmerzen berichtet. Aktuell bestehe keine hinreichende Stabilisierung des Gesundheitszustandes, unter geeigneter Therapie wären mehr als 6 Stunden arbeitstäglich möglich.
Die H hat mit Schreiben vom 16.09.2019 als Diagnosen eine Depression, eine arterielle Hypertonie, eine Adipositas bei einem BMI von 31,6 sowie einen Zustand nach Magen-Bypass-Operation im Jahr 2018 mitgeteilt. Angaben zum Leistungsvermögen konnte sie keine machen.
Der B hat in seiner schriftlichen Zeugenaussage vom 28.12.2019 als Diagnosen ein Fibromyalgiesyndrom und rezidivierende BWS-Beschwerden angegeben ...