Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Vollwaisenrente. Vollwaiseneigenschaft. Elternlosigkeit. Versterben der Mutter und des Stiefvaters. unbekannter Aufenthaltsort des leiblichen Vaters. unbekannter leiblicher Vater. Unterhaltspflicht unbeschadet der wirtschaftlichen Verhältnisse. Verschollenheit
Leitsatz (amtlich)
"Elternlosigkeit" als Voraussetzung für die Gewährung von Vollwaisenrente (§ 48 Abs 2 SGB VI) setzt nicht zwingend das Versterben beider Elternteile voraus. Ein nichteheliches Kind, dessen noch lebender Vater nicht bekannt (festgestellt) und auch nicht mit Aussicht auf Erfolg zu ermitteln ist, hat nach dem Tod der Mutter Anspruch auf Vollwaisenrente. Das gilt nicht, wenn der Vater (als ehelicher Vater) zwar bekannt oder (als nichtehelicher Vater) festgestellt und nur sein Aufenthaltsort unbekannt ist. Die zum vorausgegangenen Recht ergangene Rechtsprechung des BSG ist auch für die Auslegung des § 48 Abs 2 SGB VI maßgeblich.
Orientierungssatz
Zum Leitsatz vgl BSG vom 23.7.1959 - 3 RJ 224/58 = BSGE 10, 189 = SozR Nr 1 zu § 1269 RVO, vom 15.3.1988 - 4/11a RA 50/87 = SozR 2200 § 1269 Nr 4 und vom 18.12.1986 - 4a RJ 73/85 = BSGE 61, 108 = SozR 2200 § 1269 Nr 3 sowie LSG Darmstadt vom 20.4.1989 - L 1 An 826/83.
Normenkette
SGB VI § 48 Abs. 2 Nr. 1, § 49
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 15.09.2015 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung von Vollwaisenrente.
Die 1990 geborene Klägerin ist die leibliche Tochter des (1953 geborenen) D. N. und der U. N.; die Eltern der Klägerin wurden geschieden. Am 03.05.2004 heiratete U. N. den (unter Betreuung stehenden und Erwerbsunfähigkeitsrente beziehenden) W. H.. W. H. verstarb am 09.09.2005. U. N. verstarb am 16.11.2012. U. N. und W. H. waren bei der Beklagten gesetzlich rentenversichert; U. N. hatte die allgemeine Wartezeit erfüllt.
Mit Bescheid vom 28.12.2012 bewilligte die Beklagte der Klägerin aus dem Stammrecht ihrer verstorbenen Mutter ab 01.12.2012 Halbwaisenrente gemäß § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VI.
Am 28.01.2013 beantragte die Klägerin die Gewährung von Vollwaisenrente gemäß § 48 Abs. 2 SGB VI. Der leibliche Vater, D. N., lebe zwar noch, zu ihm bestehe aber kein Kontakt.
Mit Bescheid vom 19.02.2013 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, Vollwaisenrente werde nur gewährt, wenn kein unterhaltspflichtiger Elternteil mehr vorhanden sei. Der leibliche Vater der Klägerin lebe aber noch. Auf dessen Unterhaltsfähigkeit (oder auf die Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin) komme es nicht an.
Am 06.03.2013 legte die Klägerin Widerspruch ein; hilfsweise beantragte sie die Gewährung von Halbwaisenrente aus dem Stammrecht des W. H.. Zur Begründung trug sie vor, die Gewährung von Vollwaisenrente setze gemäß § 48 Abs. 2 SGB VI nicht (mehr) voraus, dass kein Elternteil mehr lebe. Notwendig sei nur, dass ein dem Grunde nach unterhaltspflichtiger Elternteil nicht mehr vorhanden sei. Das sei hier der Fall, da sie keine Kenntnis vom Aufenthalt ihres (noch lebenden) leiblichen Vaters (D. N.) habe; dieser habe auch zu keiner Zeit Unterhalt gezahlt. Gemäß § 48 Abs. 3 Nr. 1 SGB VI würden als (waisenrentenberechtigte) Kinder auch in den Haushalt des Verstorbenen aufgenommene Stiefkinder berücksichtigt. Diese seien den leiblichen Kindern auch hinsichtlich der Sonderrechtsnachfolge gleichgestellt (§ 56 Abs. 2 SGB I). Sie habe spätestens seit 01.03.1998 im gemeinsamen Haushalt ihrer Mutter und ihres Stiefvaters (W. H.) gelebt und damit gemäß § 48 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 48 Abs. 1 SGB VI Anspruch auf Halbwaisenrente nach dem Tod ihres Stiefvaters gehabt. Mit dem Tod ihrer im gemeinsamen Haushalt lebenden Mutter habe sie sodann einen Anspruch auf Vollwaisenrente erworben. Zumindest stehe ihr Halbwaisenrente aus dem Stammrecht ihres verstorbenen Stiefvaters zu.
Nachdem die Gewährung von Halbwaisenrente aus dem Stammrecht des W. H. (mangels zur Klägerin bestehenden Betreuungs- und Erziehungsverhältnisses familienhafter Art) zunächst mit Bescheid vom 27.09.2013 abgelehnt worden war, bewilligte die Beklagte der Klägerin die genannte Rente ab 01.10.2005 mit Bescheid vom 13.06.2014.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11.09.2014 wies die Beklagte den Widerspruch (soweit ihm nicht durch Bescheid vom 13.06.2014 abgeholfen worden war) zurück.
Am 10.10.2014 erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG). Zur Begründung trug sie ergänzend vor, mittlerweile sei unstreitig, dass sie seinerzeit in den gemeinsamen Haushalt ihrer Mutter und ihres Stiefvaters aufgenommen worden sei. Unstreitig sei auch, dass beide die allgemeine Wartezeit erfüllt hätten. Durch den Tod ihrer Mutter habe sie einen unterhaltspflichtigen Elternteil verloren. Zuvor sei durch den Tod ihres Stiefvaters ebenfalls ein unterhaltspflichtiger Elternteil weggefallen. Unerheblich sei, dass ihr leiblicher Vater (vermutlich) noch lebe. Sie habe (unstreitig...