Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausbildungsanrechnungszeit. Erlangung der Fachhochschulreife und nachfolgendes abgeschlossenes Fernstudium der Wirtschaftswissenschaften während einer Strafhaft ohne Freigängerstatus. bestandskräftige Ablehnung der Vormerkung. Überprüfungsantrag. Zulässigkeit einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage
Leitsatz (amtlich)
1. Wurde vom Rentenversicherungsträger die Vormerkung einer Anrechnungszeit bestandskräftig abgelehnt, kann der Versicherte über § 44 SGB 10 im Wege der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage die Beseitigung dieses Verwaltungsaktes verlangen, auch und gerade wenn seinem anderweitig geltend gemachten Anspruch auf höhere Rente diese Bestandskraft entgegensteht.
2. Eine während der Strafhaft - ohne Freigängerstatus - durchlaufene Ausbildung (Erlangung der Fachhochschulreife und nachfolgendes abgeschlossenes Fernstudium der Wirtschaftswissenschaften) ist keine Anrechnungszeit, weil Strafgefangene nicht "wegen der Ausbildung ohne Verschulden" (vgl BSG vom 24.10.1996 - 4 RA 52/95 = SozR 3-2600 § 58 Nr 8), sondern wegen der Strafhaft gehindert sind, eine versicherungspflichtige Beschäftigung auszuüben.
Orientierungssatz
Zum Begriff der "Schulausbildung" iS des § 58 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB 6.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 15.08.2007 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Instanzen nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Vormerkung einer Anrechnungszeit wegen Schul- bzw. Hochschulausbildung während der Verbüßung einer Strafhaft.
Der am … 1941 geborene Kläger verbüßte auf Grund eines Urteils des Landgerichts K. vom 25.11.1977 (Aktenzeichen I Ks 7/77) eine lebenslange Freiheitsstrafe. Er befand sich ab 12.10.1977 in Untersuchungshaft. Die Freiheitsstrafe wurde nach den Angaben des Klägers nach 15 Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Der genaue Zeitpunkt der Entlassung aus der Strafhaft konnte nicht ermittelt werden, weil die Strafvollstreckungsakten nicht mehr auffindbar sind und der Kläger diesbezüglich über keinerlei Unterlagen mehr verfügt. Ab 01.01.1991 sind für den Kläger Pflichtbeiträge wegen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung entrichtet.
Während seiner Inhaftierung absolvierte der Kläger ab 02.07.1979 einen Kurs zur Erlangung der Fachhochschulreife an der C.-E.-Schule, K. mit ganztägigem Unterricht (so die Angaben des Klägers und Auskunft der Justizvollzugsanstalt B. vom 22.05.2000), den er am 23.10.1980 erfolgreich abschloss. Der Unterricht wurde in der Justizvollzugsanstalt erteilt, der Kläger war währenddessen von der Arbeitspflicht freigestellt. Ab 01.10.1981 absolvierte er als Teilzeitstudent ein Studium der Wirtschaftswissenschaften bei der Fernuniversität H., für welches er nach seinen Angaben mindestens 20 Stunden wöchentlich aufwendete und das er am 03.08.1990 mit der Diplomprüfung abschloss. Während dieser Zeit arbeitete er im Vollzug nur halbtags (von 7 bis 12 Uhr vormittags) und wurde dementsprechend entlohnt, die andere Hälfte war er von der Arbeitspflicht als Strafgefangener befreit (Schreiben der Justizvollzugsanstalt B. vom 12.07.2000).
Mit bestandskräftig gewordenem Vormerkungsbescheid vom 28.06.2000 lehnte die Beklagte die Vormerkung der Schul- und Hochschulausbildung während der Strafhaft ab. Ein Antrag des Klägers auf Rücknahme des Bescheides vom 28.06.2000 wurde mit - ebenfalls bestandskräftigem - Bescheid vom 09.06.2004 abgelehnt.
Mit Bescheid vom 22.07.2005 bewilligte die Beklagte dem Kläger auf einen Antrag vom 03.02.2005 eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit ab 01.05.2005. Nach dem in der Anlage 2 zum Rentenbescheid befindlichen Versicherungsverlauf sind für die Zeit vom 15.10.1977 bis 31.12.1990 keine Zeiten vorgemerkt. Den hiergegen erhobenen Widerspruch des Klägers vom 05.09.2005, mit welchem er die Berücksichtigung des Schul- und Hochschulbesuchs als rentenversicherungsrechtlich relevante Zeit begehrte, wertete die Beklagte (auch) als Antrag auf Überprüfung des Bescheides vom 28.06.2000 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Mit Bescheid vom 21.10.2005 und Widerspruchsbescheid vom 26.06.2006 lehnte die Beklagte die (teilweise) Rücknahme des Bescheides vom 28.06.2000 ab und führte zur Begründung aus, Zeiten einer schulischen Ausbildung während des Strafvollzuges seien nur als Anrechnungszeiten zu berücksichtigen, wenn für den Versicherten die - theoretische - Möglichkeit bestanden habe, während des Strafvollzugs auf Grund einer Beschäftigung Pflichtbeiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwerben.
Der Kläger hat am 27.07.2006 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben und geltend gemacht, er hätte auch schon während der Zeit des Studiums die Möglichkeit gehabt, Lockerungen des Strafvollzuges mit der Folge, dass eine versicherungspflichtige Beschäftigung hätte ausgeübt werden können, zu ...