Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeldanspruch. Erfüllung der Anwartschaftszeit. Berücksichtigung von Beschäftigungs- bzw Versicherungszeiten im EWR-Staat Norwegen. Freistellung bei Fortbestand des Arbeitsverhältnisses im Ausland wegen längerer Erkrankung. Verlegung des Wohnsitzes während der Arbeitsunfähigkeit zurück ins Inland. keine Beschäftigungszeit im Inland. Begründung der Eigenschaft eines unechten Grenzgängers. Versicherungspflicht durch Krankengeldbezug
Leitsatz (amtlich)
1. Unechter Grenzgänger kann auch sein, wer seinen Wohnort innerhalb eines inaktiven Zeitraums (zB aufgrund von Krankheit) bereits längere Zeit vor Beendigung seines rechtlich noch fortbestehenden Arbeitsverhältnisses in einen anderen Mitgliedstaat verlegt und danach nicht mehr an seinen Beschäftigungsort zurückkehrt.
2. Im Hinblick auf das Erfordernis der Anwartschaftszeit genügt es nach Art 67 VO (EWG) 1408/71 bzw Art 61 VO (EG) 883/2004, dass die betreffende Person in irgendeinem System der sozialen Sicherheit versichert war; eine Versicherungspflicht gerade in einem speziellen System der Arbeitslosenversicherung ist nicht erforderlich.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. November 2016 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass dem Kläger Arbeitslosengeld für die Zeit vom 17. August 2015 bis 31. Oktober 2015 zu gewähren ist.
Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 17. August 2015 bis 31. Oktober 2015.
Der 1969 geborene Kläger war seit 23. April 2013 als Fernfahrer bei der Firma A in S (Norwegen) beschäftigt, hatte dort nach seinen Angaben eine 3-Zimmer Wohnung und erzielte ein Bruttoarbeitsentgelt von umgerechnet täglich 162,07 Euro.
Seit 27. Februar 2014 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Nach dem Ende der Lohnfortzahlung durch den norwegischen Arbeitgeber bezog er ab 1. April 2014 (norwegisches) Krankengeld. Am 3. Juni 2014 gab er - seinen Angaben zufolge - die Wohnung in Norwegen auf und zog am 4. Juni 2014 nach Berlin und wohnte dort zunächst (bei C) in der P Straße und danach zur Untermiete in der P Straße . Dort war er auch jeweils mit Hauptwohnsitz polizeilich gemeldet. Ferner ließ er sich mit Schreiben vom 17. Juni 2014 eine SIM-Karte eines deutschen Mobilfunk-Anbieters an seine Anschrift in der P Straße schicken. Mit Schreiben vom 27. November 2014 kündigte der Arbeitgeber des Klägers das Arbeitsverhältnis zum 28. Februar 2015. Das Kündigungsschreiben wurde nach Berlin gesandt. Als Anschrift des Klägers war in dem Kündigungschreiben die PStraße angegeben. Der Krankengeldbezug des Klägers endete am 9. Februar 2015.
In der Zeit vom 10. Februar bis 28. Februar 2015 war der Kläger nicht mehr in Norwegen für die Firma A tätig; er war von seinem Arbeitgeber freigestellt worden. Am 28. Februar 2015 endete das Beschäftigungsverhältnis in Norwegen. Vom 1. März 2015 bis 16. August 2015 bezog der Kläger Arbeitslosengeld II.
Am 17. August 2015 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Alg. Mit Bescheid vom 20. August 2015 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Er habe die Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Die Zeiten, die von einem anderen Träger aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union bescheinigt worden seien, könnten nicht zur Erfüllung der Anwartschaftszeit herangezogen werden, da der Kläger nicht unmittelbar vor Eintritt der Arbeitslosigkeit versicherungspflichtig in der Bundesrepublik bzw. als echter oder unechter Grenzgänger beschäftigt gewesen sei. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2015 zurück.
Am 1. November 2015 nahm der Kläger eine neue Beschäftigung auf.
Am 11. Januar 2016 hat der Kläger Klage erhoben. Er habe aufgrund der in Norwegen zurückgelegten Beschäftigungszeiten die Anwartschaftszeit erfüllt. Er sei während seiner gesamten Zeit in Norwegen, jedenfalls aber seit dem 4. Juni 2014 unechter Grenzgänger gewesen.
Mit Urteil vom 4. November 2016 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 20. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2015 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 17. August 2015 dem Grunde nach Alg zu gewähren. Der Kläger sei jedenfalls seit Juni 2014 unechter Grenzgänger gewesen. Zu diesem Zeitpunkt habe er nach seinem glaubhaften Vorbringen eine Rückkehr ins Bundesgebiet beschlossen. Ob die unter Beweis gestellte Pflege seiner freundschaftlichen Kontakte den Mittelpunkt seines Interesses wertungsmäßig schon vor Juni 2014 nach Deutschland verlegt habe, könne offenbleiben, weil die Grenzgänger-Eigenschaft auch während der Ausübung der Auslandsbeschäftigung begründet werden könne und dann die volle Berücksichtigung der anwartschaftsrelevanten Versicherungszeiten zur Folge habe.
Gegen dieses ihr am 15. November 2016 zugegangene Urte...