Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung wegen höchstgradiger Schwerhörigkeit und Kleinwüchsigkeit

 

Orientierungssatz

1. Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB 6 hat, wer u. a. an einer höchstgradigen Schwerhörigkeit bei Kleinwuchs leidet. Diese Erkrankungen stellen eine erhebliche Gefahr dar, am normalen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die Hörbehinderung macht es unmöglich, sich nähernden Gefahren zu entziehen. Zudem besteht durch eine ausgeprägte Kleinwüchsigkeit das hohe Risiko, übersehen zu werden. Diese Kombination macht bereits den Gang zur Arbeitsstelle zu einem unkontrollierbaren Risiko. Es ist keine Tätigkeit vorstellbar, an welcher der Versicherte teilhaben kann, ohne sich selbst oder andere zu gefährden.

2. Die Anerkennung des Merkzeichens "GL" - Gehörlosigkeit - im Schwerbehindertenrecht hat Tatbestandswirkung. Sie setzt nach § 145 Abs. 1 SGB 9 i. V. m. § 3 Abs. 1 Nr. 4 SchwbAwV voraus, dass entweder eine beiderseitige Taubheit besteht oder eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit, verbunden mit schweren Sprachstörungen.

 

Normenkette

SGB VI § 43 Abs. 2; SGB IX § 145 Abs. 1; SchwbAwV § 3 Abs. 1 Nr. 4; VersMedV Teil D4 Anl. zu § 2

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 17. März 2015 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Rente unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalles am 4. Juni 2012 zu gewähren ist.

Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten auch für das Berufungsverfahren in vollem Umfang zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beklagte wehrt sich mit der Berufung gegen die Verurteilung zur Gewährung einer unbefristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Die 1961 geborene, 137 cm große Klägerin ist schwerbehindert. Mit Bescheid vom 29. Juli 1996 hatte das Amt für Soziales und Versorgung Cottbus bei der Klägerin einen GdB von 70 festgestellt sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich mit Merkzeichen RF. Dem lag zugrunde, ein führendes Leiden Schwerhörigkeit mit einem Einzel-GdB von 50, ferner Kleinwuchs mit Leistungseinschränkung mit einem Einzel-GdB von 40 sowie Herzrhythmusstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 und eine operierte Lippen-Kiefer-Gaumenspalte mit einseitiger Behinderung der Nasenatmung mit einem Einzel-GdB von 10. Auf den Verschlimmerungsantrag der Klägerin vom 4. Juni 2012 setzte das Amt für Gesundheit und Versorgung nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen den GdB der Klägerin auf 90 hoch und legte dem zugrunde: eine erhebliche Verschlechterung der Schwerhörigkeit, die nunmehr als Taubheit bezeichnet wurde und mit einem Einzel-GdB von 80 bewertet wurde. Ferner Kleinwuchs bei Leistungseinschränkung mit einem Einzel-GdB von 40, im Übrigen verblieb es bei den bisherigen Bewertungen. Zusätzlich wurde nunmehr der Nachteilsausgleich mit Merkzeichen GL für Gehörlosigkeit festgestellt.

Am 23. Januar 2013 stellte die Klägerin einen Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Mit Bescheid vom 31. Mai 2013 lehnte die Beklagte die Gewährung der beantragten Rente ab und führte zur Begründung aus, nach ihrer medizinischen Beurteilung könne die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. August 2013 zurück.

Mit der am 28. August 2013 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt und Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Allgemein- und Arbeitsmedizin L. Nach Untersuchung der Klägerin ist der Sachverständige in seinem Gutachten vom 27. Juni 2014 zu der Einschätzung gelangt, die tägliche Arbeitsleistung der Klägerin sei zeitlich regelmäßig nicht eingeschränkt. Über die betriebsüblichen Pausen hinaus würden keine Arbeitsunterbrechungen benötigt. Auch sei die Klägerin in der Lage, Arbeitsplätze von ihrer Wohnung aus aufzusuchen und benötige hierzu keine Begleitperson. Sie könne öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Ihr sei viermal täglich das Zurücklegen von Wegstrecken von rund 400 Metern bzw. einer Dauer von jeweils 20 Minuten zuzumuten. In qualitativer Hinsicht sei das Leistungsvermögen wie folgt eingeschränkt: Zumutbar seien ausschließlich körperlich leichte Arbeiten, die überwiegend im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen zu etwa gleichen Anteilen, jedoch nicht ausschließlich in einer von diesen, ausgeübt werden. Möglich seien Arbeiten in geschlossenen Räumen oder im Freien, allerdings unter Witterungsschutz. Zu vermeiden seien Arbeiten in Kälte, Nässe, Zugluft, großer Hitze oder starken Temperaturschwankungen, Lärmarbeiten sowie Arbeiten mit Nickel. Die Klägerin könne keine Arbeiten im Steigen, Klettern, in der Hocke oder im Kriechen verrichten. Ebenfalls nicht mit ständigem oder...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Haufe Kranken- und Pflegeversicherungs Office enthalten. Sie wollen mehr?