Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Off-Label-Use von methylphenidathaltigen Medikamenten zur Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter
Orientierungssatz
1. Ein Erwachsener, der sich im Jahr 2007 ein methylphenidathaltiges Medikament (hier: Medikinet Retard) zur Behandlung eines Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) mit einem Privatrezept selbst beschafft hat, kann von der gesetzlichen Krankenkasse die Erstattung der Kosten nach § 13 Abs. 3 Satz 1 zweite Alternative SGB 5 nicht beanspruchen, da für solche Arzneimittel die nach § 21 Arzneimittelgesetz (AMG) erforderliche Zulassung fehlt und die vom BSG geforderten Voraussetzungen für einen Off-Label-Use nicht vorliegen (Aufrechterhaltung des Urteils des LSG Berlin-Potsdam vom 16.07.2010, L 1 KR 653/07).
2. Der vom BSG im Urteil vom 30.06.2009 - B 1 KR 5/09 R - (BSGE 89,184) unter Weiterentwicklung der Grundsätze zum Off-Label-Use erwogene Anspruch auf Kostenersatz bei der zulassungsüberschreitenden Weiterbehandlung einer und derselben Erkrankung bei Erwachsenen, die als Kinder mit einem nur für die Behandlung von unter 18-Jährigen zugelassenen Medikament versorgt worden sind, ist bei Arzneikosten, die im Jahr 2007 zur Behandlung von ADHS aufgewandt wurden, nicht gegeben, weil die erste große Studie, auf Grund deren wissenschaftlich angezweifelt wurde, dass ADHS mit dem Erwachsenenalter ausheile, erst 2009 veröffentlicht wurde.
3. Verfassungsrechtliche Aspekte rechtfertigen nicht den Off-Label-Use von methylphenidathaltigen Medikamenten im Erwachsenenalter bei ADHS, da diese Krankheit nicht lebensbedrohlich ist oder regelmäßig tödlich verläuft, und zudem Gesundheitsgefährdungen möglich sind (auch insoweit Aufrechterhaltung des Urteils vom 16.07.2010).
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten sich um die Erstattung von Kosten für die Behandlung des Klägers mit dem selbst beschafften Arzneimittel Medikinet Retard (Wirkstoff Methylphenidat) für den Zeitraum 12. April 2007 bis 31. Dezember 2007 in Höhe von 1.585,24 EUR. Hinsichtlich der Einzelheiten der konkreten Beschaffungen wird auf die Kopien der Privatverordnungen und der Rechnungen der Apotheke Bl. 15-18 der Gerichtsakte verwiesen.
Der 1989 geborene und bis zum 31. Dezember 2007 bei der Beklagten versicherte Kläger wurde aufgrund einer im Jahr 1997 diagnostizierten Erkrankung an einem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) bis zu seiner Volljährigkeit mit dem Arzneimittel Medikinet Retard behandelt. Verordnet wurde es jeweils durch die Ärztin für Kinderheilkunde Dr. B. Das Arzneimittel ist nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) bis heute nur für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen zugelassen. Die Versorgung wurde deshalb von der Beklagten nur bis zur Volljährigkeit des Klägers übernommen.
Am 18. Juni 2007 beantragte dieser, die Kosten für die weitere Versorgung auch nach dem Erreichen der Volljährigkeit zu übernehmen. Er sei bei Einnahme dieses Arzneimittels ruhiger und gelassener und könne sein Leben besser bewältigten. Seine Ärztin Dr. B gab auf Befragung hin unter dem 1. Juni 2007 an, Therapieziel sei die Verbesserung der Lebensqualität bei schwerem ADHS. Eine Behandlungsalternative bestehe nicht. Es gäbe einen Konsens in den Fachkreisen zu einem Einsatz des Medikamentes auch nach Erreichen der Volljährigkeit. Die Weiterbehandlung sei erforderlich, um die Lebensqualität zu verbessern und die Chancen zur Vermittlung eines Ausbildungsplatzes zu erhöhen. Die positive Wirkung auf sein Befinden und Verhalten sei aus ihrer Sicht und der der anderen Familienmitglieder unbestritten. Der Kläger wirke nach der Medikamentennahme ruhiger und gelassener.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 4. Juli 2007 den Antrag ab.
Hiergegen richtete sich der Widerspruch des Klägers vom 4. August 2007. Er benötige das Medikament gemäß der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e. V. 2007, solange er individuelle Kompensationsstrategien für die Symptomatik (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität) noch nicht erworben habe und eine deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität vorhanden sei
Die Beklagte holte daraufhin eine (weitere) Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) vom 24. August 2007 ein. Dieser sah die Indikationsstellung als unklar an. Dem Schreiben der behandelnden Ärztin vom 14. August 2007 sei nicht zu entnehmen, dass die Stimulanzientherapie befristet durchgeführt und dass die Notwendigkeit der Fortführung regelmäßig überprüft werde. Eine Indikationsstellung sei damit nicht geklärt. Die Verordnung eines Stimulanzpräparates als Dauertherapie entspräche keinesfalls dem medizinischen Standard. Es sei zudem ein multimodales Behandlungskonzept erforderlich, welches bei dem Kläger jedenfalls aktuell nicht zu erkennen sei.
Die Beklagte wies daraufhin mit ...