Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Streit über die Wirksamkeit eines Prozessvergleiches. Doppelnatur des gerichtlichen Vergleiches. Anfechtbarkeit

 

Orientierungssatz

1. Bei einem Streit über die Unwirksamkeit eines Vergleichs muss der ursprüngliche Rechtsstreit fortgeführt werden. Macht ein Kläger geltend, es sei überhaupt kein Vergleich abgeschlossen worden, oder erhebt er Einwände gegen die Wirksamkeit eines Vergleichs, so lebt die Rechtshängigkeit des ursprünglichen Verfahrens rückwirkend wieder auf. Das Gericht, vor dem der Vergleich geschlossen worden ist, entscheidet dann entweder dahin, dass die Beendigung des Rechtsstreits durch den Vergleich durch Endurteil festgestellt wird oder, wenn die Beendigung verneint wird - etwa weil der Vergleich zu Recht angefochten worden ist - in der Sache selbst (vgl. BSG, Urteil vom 28.11.2002 - B 7 AL 26/02 R).

2. Ein Vergleich ist ein Vertrag, durch den der Streit oder die Ungewissheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis im Wege des gegenseitigen Nachgebens beseitigt wird. Der gerichtliche Vergleich hat nach h.M. eine Doppelnatur. Er ist sowohl öffentlich-rechtlicher Vertrag, für den materielles Recht gilt (§ 779 BGB, § 54 SGB X), als auch Prozesshandlung der Beteiligten (Prozessvertrag), die den Rechtsstreit unmittelbar beendet und deren Wirksamkeit sich nach Grundsätzen des Prozessrechts richtet.

3. Auf Prozesshandlungen - wie die Zustimmung zu einem gerichtlichen Vergleich - finden die Anfechtungsgründe des BGB keine Anwendung.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 05. Mai 2009 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander Kosten, die nach dem 24. Oktober 2008 entstanden sind, nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten (nur noch) eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01. Januar 2005; streitig ist insbesondere, ob der Rechtsstreit am 24. Oktober 2008 durch Vergleich vor dem Sozialgericht (SG) Berlin beendet worden ist.

Die 1954 geborene Klägerin war zuletzt als Erzieherin beruflich tätig. Ihren am 07. Dezember 2004 gestellten Antrag, ihr eine Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. April 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. November 2005 ab.

Während des anschließenden Klageverfahrens vor dem SG Berlin hat die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 01. August 2007 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem 01. Januar 2005 auf Dauer unter Zugrundelegung eines am 07. Dezember 2004 eingetretenen Versicherungsfalls gewährt. Grundlage hierfür war ein vom SG eingeholtes psychiatrisches Gutachten vom 25. April 2007.

Nach Einholung eines allgemeinmedizinischen Gutachtens vom 18. März 2008 hat das SG mit Schreiben vom 24. Juni 2008 den Beteiligten zur Beendigung des Rechtsstreits eine vergleichsweise Regelung vorgeschlagen, wonach die Beklagte, der in dem vorgenannten Gutachten ausgesprochenen Empfehlung folgend, der Klägerin ein medizinisches stationäres Heilverfahren auf psychotherapeutisch/psychosomatischem Gebiet bewilligen sollte, die Klägerin im Gegenzug ohne Erstattung ihrer außergerichtlichen Kosten die Klage zurücknehmen sollte und der Rechtsstreit damit erledigt sei. Diesen Vorschlag hat die Klägerin abgelehnt (Schreiben vom 04. August 2008).

Vor dem SG hat am 24. Oktober 2008 Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden. Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung, zu der ein Protokollführer nicht hinzugezogen worden ist, sind nach Aufruf der Sache die Klägerin und der sie damals vertretende Rechtsanwalt, der nach der von ihr am 18. November 2005 unterschriebenen und am 05. Dezember 2005 beim SG eingegangener Vollmacht ua die Befugnis hatte, den Rechtsstreit durch Vergleich beizulegen (Nr 10 der Prozessvollmacht), sowie eine - sich auf die bei Gericht hinterlegte Generalterminsvollmacht berufende - Vertreterin der Beklagten erschienen. Auf Seite 2 der Niederschrift ist Folgendes protokolliert worden:

“Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage schließen die Beteiligten zur Beendigung des Rechtsstreits folgenden Vergleich:

1.

Die Beklagte bewilligt der Klägerin ein medizinisches stationäres Heilverfahren auf psychotherapeutisch/psychosomatischem Fachgebiet. Bei der Rehabilitation werden auch die vorliegenden organmedizinischen Krankheiten der Klägerin berücksichtigt. Die Klägerin bittet darum, dass das Heilverfahren in B oder in der Nähe von B durchgeführt wird.

2.

Die Klägerin nimmt ihre Klage zurück.

3.

Die Beklagte erstattet der Klägerin die Hälfte ihrer außergerichtlichen Kosten (des Widerspruchsverfahrens und des Klageverfahrens).

4.

Der Rechtsstreit ist damit erledigt.

vorgespielt und genehmigt.„

Das Protokoll ist von der Kammervorsitzenden unterschrieben, die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hat mit ihrer Unterschrift die Richtigkeit der Übertragung der vorläufigen Aufzeichnung vom Tonträger bestäti...

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