Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Zuerkennung des Merkzeichens “BL„ bei Sehbehinderung aufgrund einer Lidkrampferkrankung
Orientierungssatz
Einer Blindheit kommt es gleich, wenn zwar die Sehstörung selbst nicht zum Entfall des Sehvermögens führt, jedoch eine Erkrankung des Auges das Sehen in vergleichbarer Weise verhindert (hier Lidkrampf in Form eines Blepharospasmus). In diesem Fall kommt auch dann die Zuerkennung des Merkzeichens (BL) für Blindheit in Betracht, wenn am Auge selbst ein Restsehvermögen gegeben ist.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 10. April 2014 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 21. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 2012 verpflichtet, zu Gunsten der Klägerin ab dem 21. September 2010 die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens “Bl„ festzustellen
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" (blind).
Die 1977 geborene Klägerin, bei der mit Wirkung ab Juni 2010 ein Grad der Behinderung von 90 und die gesundheitlichen Merkmale “G„, “B„ und “RF„ festgestellt worden waren, beantragte am 21. September 2010 die Zuerkennung des Merkzeichens “Bl„. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der ihm vorliegenden ärztlichen Unterlagen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 21. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 2012 den Antrag ab.
Hiergegen wandte sich die Klägerin mit der bei dem Sozialgericht Potsdam erhobenen Klage. Neben Befundberichten der behandelnden Ärzte hat das Sozialgericht das Gutachten des Augenarztes Dr. V vom 27. April 2013 eingeholt. der die Anerkennung des begehrten Merkzeichens empfohlen hat. Zwar fehle der Klägerin das Augenlicht nicht vollständig. Auch sei nicht zu erwarten, dass an beiden Augen eine erreichbare Sehschärfe unter 1/50 vorhanden sei. Es läge jedoch eine andere, hiermit vergleichbare Sehstörung vor: Die Klägerin leide an einem Blepharospasmus, einem krampfhaften Verschluss der Augenlider, welcher derart ausgeprägt sei, dass sie nicht in der Lage sei, die Augen über einen kürzeren Zeitraum hinaus halbwegs zu öffnen.
Mit Urteil vom 10. April 2014 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin erfülle die Voraussetzungen des Merkzeichens “Bl„ nicht. Das Sehvermögen sei zwar hochgradig beeinträchtigt, jedoch sei der Lidkrampf nicht ständig in der Weise vorhanden, dass von einer funktionellen Blindheit auszugehen sei. Denn es sei der Klägerin aufgrund der Injektionen mit Botulinumtoxin immer wieder möglich, bei entsprechend günstigen äußeren Bedingungen - ohne Wind, ohne Sonnenlicht oder andere blendende Helligkeit - die Augen zu öffnen. Dann sei sie in die Lage versetzt, das vorhandene restliche Sehvermögen zu nutzen.
Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin Berufung bei dem Landessozialgericht eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt. Ihre Sehstörung sei mit dem Verlust der Sehschärfe auf 1/50 gleichzusetzen, da sich ihr nur sehr eingeschränkte visuelle Orientierungsmöglichkeiten böten.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 10. April 2014 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 21. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 2012 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab 21. September 2010 das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens “Bl„ festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält seine Entscheidung für zutreffend.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Entscheidung des Beklagten, den Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens “Bl„ abzulehnen, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil sie Anspruch auf das begehrte Merkzeichen hat.
Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 Schwerbehindertenausweisverordnung ist im Ausweis das Merkzeichen “Bl„ einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) oder entsprechender Vorschriften ist. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Blinden Menschen stehen nach § 72 Abs. 5 SGB XII Personen gleich, deren beidäugige Gesamtsehschärfe nicht mehr als 1/50 beträgt oder bei denen dem Schweregrad dieser Sehschärfe gleich...