Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Angemessenheit der Unterkunftskosten. Einpersonenhaushalt im Stadtgebiet Berlin. Fehlen eines schlüssigen Konzepts des Grundsicherungsträgers. Berücksichtigung des Berliner Mietspiegels 2015. Rückgriff auf die Tabellenwerte der Wohngeldtabelle. Vergleich mit der Miethöhe im sozialen Wohnungsbau
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit sind wegen dessen normativer Vorprägung die gesetzgeberischen Entscheidungen zur Sicherung angemessenen Wohnraums für Hilfebedürftige zu beachten, um sicherzustellen, dass der Vergleich mit der Referenzgruppe gelingt. Dazu gehört in angespannten Wohnungsmärkten der Vergleich mit den Mieten im sozialen Wohnungsbau.
2. Wohnraum der nach den Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus und des WoGG angemessen ist, kann jedenfalls in angespannten Wohnungsmärkten nicht grundsicherungsrechtlich unangemessen sein.
3. Auch wenn sich das Gericht nicht in der Lage sieht, eine Angemessenheitsgrenze zu bestimmen, ist bei einem Vergleich mit Sozialmieten die Feststellung zulässig, dass die konkrete Bruttokaltmiete im Einzelfall angemessen war.
4. Das Sozialrechtsoptimierungsgebot des § 2 Abs 2 SGB I schließt in seiner verfahrensrechtlichen Wirkung bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit die Verortung der Darlegungs- und Beweislast auf Seiten des Leistungsberechtigten aus.
5. Ein Rückgriff auf die um den Faktor 1,1 erhöhten Werte der Wohngeldtabelle im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Realitätsgebot erscheint für 2015/2016 im Land Berlin nicht sachgerecht.
Orientierungssatz
Zur Bestimmung der angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft scheidet eine Berücksichtigung des Berliner Mietspiegels 2015 aus. Es sind hinreichende objektive Umstände erkennbar, die für Berlin auf eine Abkoppelung des Marktgeschehens vom Mietspiegel hindeuten (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 2.12.2021 - L 32 AS 579/16 = juris RdNr 70).
Tenor
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 2. August 2017 und der Bescheid des Beklagten vom 6. November 2015 sowie der Bescheid vom 29. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2015 werden geändert.
Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin unter Anrechnung der bereits bewilligten Leistungen weitere Leistungen nach dem SGB II für die Kosten der Unterkunft und Heizung einschließlich zur Erzeugung von Warmwasser unter Zugrundelegung angemessener Kosten dafür in Höhe von 620,53 Euro monatlich zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits zu sieben Achteln zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über höhere Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) und die Warmwasseraufwendungen für den Zeitraum von Dezember 2015 bis Mai 2016.
Die 1967 geborene Klägerin bewohnte seit Juli 1997 die Wohnung Rstraße im Zuständigkeitsbereich des Beklagten in einem Mehrfamilienhaus mit einer Gesamtfläche von 1.044,47 m2 mit einer im Mietvertrag vom 11. Juli 1997 angegebenen und bei den Nebenkosten jeweils berücksichtigten Fläche von 90 m² (3 Zimmer Dachgeschoss, eine Küche, ein Bad, ein Kellerraum) und mit Fernwärme und zentraler Warmwasserversorgung. Bei Antragstellung im November 2015 betrugen die KdUH 641,36 Euro (Bruttokaltmiete 551,36 Euro + Heizkosten 90,00 Euro) auf der Grundlage der zum Februar 2014 erfolgten Mieterhöhung. Eine Auftrennung der Bruttokaltmiete in eine Nettokaltmiete und Betriebskosten erfolgte für die Wohnung der Klägerin nicht, auch keine Betriebskostenabrechnungen.
Der Beklagte hörte die Klägerin wiederholt im Hinblick auf nach seiner Ansicht überhöhte Unterkunftskosten und eine Verpflichtung der Klägerin zur Kostensenkung an (Schr. vom 29.06.2011: Der Richtwert für angemessene KdUH - Bruttowarmmiete - betrage im Fall der Klägerin 378,00 Euro, Schr. vom 23.01.2013: Mietobergrenze 445,50 Euro mit Hinweis auf Absenkung auf diesen Betrag nach 12 Monaten, Schr. vom 20.05.2014: Mietobergrenze 463,10 Euro mit Hinweis auf Absenkung auf diesen Betrag nach 6 Monaten). Mit Bescheid vom 14 November 2014 bewilligte der Beklagte für den Zeitraum von Dezember 2014 bis November 2015 Leistungen für KdUH nur noch in Höhe von 463,10 Euro. Die Klägerin übte vom 21. Oktober bis 6. November 2015 eine Beschäftigung aus, für die ihr für den Monat Oktober 2015 ein Gehalt von 616,34 Euro netto, 1.039,39 Euro Gesamtbrutto, und für November 2015 ein Gehalt von 336,18 Euro netto, 566,94 Euro Gesamtbrutto, jeweils im November 2015 ausgezahlt wurden.
Die Klägerin beantragte am 22. Oktober 2015 die Weiterbewilligung von Leistungen und gab KdUH i.H.v. 641, 36 Euro an. Der Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 6. November 2015 für den Zeitraum vom 1. Dezember 2015 bis 31. Mai 2016 Grundsicherungsleistungen monatlich für den Regelbedarf i.H.v. 399,00 Euro und für Bedarfe ...