Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersatzzeit. nationalsozialistische Verfolgung. Jude. Zwangsarbeit unter nicht haftähnlichen Bedingungen im Ghetto Bendzin
Leitsatz (amtlich)
Der Begriff der Freiheitseinschränkung des § 250 Abs 1 Nr 4 SGB 6 ist über die darin in Bezug genommenen Tatbestände des § 47 BEG hinaus nicht auslegungsfähig.
Orientierungssatz
Anhaltspunkte für ein Leben unter haftähnlichen Bedingungen - hier bei Straßenreinigungsarbeiten in der Zeit vom 1.11.1939 bis 7.1.1940 in Bendzin, Regierungsbezirk Kattowitz - liegen hier nicht vor. Haftähnliche Bedingungen setzten voraus, dass der Verfolgte erheblich und laufend behördlich streng überwachten Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit unterworfen war und nach den sonstigen sich ergebenden Bedingungen ein Leben führen musste, das dem eines Häftlings sehr nahe kam, er also zwar nicht vollständig, aber sehr weitgehend von der Umwelt abgeschnitten war (vgl BSG vom 21.5.1974 - 1 RA 63/73 = SozR 2200 § 1251 Nr 5).
Nachgehend
Tatbestand
Im Streit steht die Gewährung einer höheren Regelaltersrente.
Der Kläger ist anerkannter Verfolgter. 1922 in B. geboren, siedelte er als Kind mit seinen Eltern nach Bendzin (Bedzin, Bendsburg) im Regierungsbezirk Kattowitz, Ostoberschlesien in Polen über, wo er bei Ausbruch des zweiten Weltkriegs lebte. Seit 1950 lebt er in den USA, deren Staatsangehörigkeit er besitzt.
In seinem am 25. November 1949 gestellten Antrag auf Entschädigung eines Schadens an Freiheit verneinte der Kläger die Frage, ob er Zwangsarbeit geleistet habe. In einer im Entschädigungsverfahren abgegebenen eidesstattlichen Versicherung vom 22. August 1956 gab er an, er habe sich bereits wenige Wochen nach der deutschen Besetzung alltäglich zur Zwangsarbeit bei der jüdischen Gemeinde in Bendzin melden müssen; er sei dann vorwiegend bei Straßenreinigungsarbeiten eingesetzt worden, sowie auch bei den verschiedensten Arbeiten zur Anlage eines neuen Parks. Bei diesen täglichen Zwangsarbeiten habe er spätestens ab Mitte Dezember 1939 zu seiner Kennzeichnung als Jude ein Abzeichen tragen müssen. Diese jüdische Kennzeichnung habe einmal gewechselt; das eine Kennzeichen habe aus einer weißen Armbinde mit einem blauen Davidstern, das andere aus einem auf der Brust zu tragenden gelben Stern bestanden.
In einem nervenärztlichen Gutachten der H. C. vom November 1965 findet sich die Angabe des Klägers, er habe mehr und mehr unter der Angst gelitten, auf die Straße zu gehen. Ab 1940 habe er eine Armbinde als Jude tragen müssen; ab und zu sei er von 1939 an zu örtlichen Zwangsarbeiten eingezogen worden. Sie hätten zunächst in ihrer Wohnung bleiben können; die Nachbarschaft sei vorwiegend christlich gewesen. 1941 sei ein Erlass ergangen, dass ihre Wohngegend ‚judenfrei’ sein müsse.
Ein nachfolgendes, auf Gewährung weiterer Haftentschädigung für die Zeit vom 15. Dezember 1939 bis 31. Mai 1941 gerichtetes Verfahren endete durch vergleichsweise Zuerkennung eines Freiheitsschadens ab dem 8. Januar 1940.
Auf einen am 6. März 1998 gestellten Antrag des Klägers hin ermächtigte ihn die Beklagte mit Bescheid vom 10. August 1999 zur Nachentrichtung von Beiträgen. Mit Bescheid vom 17. September 1999 bewilligte sie ihm ab dem 1. März 1998 Regelaltersrente und berücksichtigte dabei u.a. nachentrichtete Pflichtbeiträge für die Zeit vom 1. Februar 1938 bis 31. Januar 1939 sowie Ersatzzeiten wegen Verfolgung ab 8. Januar 1940.
Mit Bescheid vom 15. Januar 2003 änderte die Beklagte den Rentenbescheid unter Berücksichtigung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG) ab. Am 5. Mai 2003 beantragte der damalige Bevollmächtigte des Klägers die Überprüfung dieses Bescheides und begehrte die Anerkennung weiterer Ersatzzeiten wegen Verfolgung ab September 1939. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14. Mai 2003 ab; hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2004 wies die Beklagte den ‚gegen den Bescheid vom 15. Januar 2003’ erhobenen Widerspruch zurück.
Hiergegen hat der Kläger mit der Begründung Klage erhoben, der Tatbestand der Freiheitsentziehung im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI sei erfüllt, da jeder Arbeitszwang eine erhebliche Einschränkung der persönlichen Freiheit zur Folge habe.
Das Sozialgericht (SG) hat der - im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens auf die Anerkennung einer weiteren Ersatzzeit vom 1. November 1939 bis 7. Januar 1940 beschränkten - Klage durch Urteil vom 9. September 2005 stattgegeben.
Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar habe es sich bei der vom Kläger verrichteten Arbeit aufgrund der fehlenden strengen Bewachung nicht um Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen und somit nicht um eine Freiheitsentziehung gehandelt, Jedoch sei die strittige Zeit aufgrund des seinerzeit bestehenden Arbeitszwanges als Zeit der Freiheitsbeschränkung im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr...