Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Anschaffung einer Brille. Sehbehinderung. Störung des Sehvermögens trotz Gläserkorrektion. Hilfe in sonstigen Lebenslagen. atypische Bedarfslage. Eigenanteile als Gesundheitspflege Bestandteil des Regelbedarfs. Verfassungsmäßigkeit. - siehe dazu anhängiges Verfahren beim BSG: B 8 SO 4/18 R
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Anspruch auf Kostenübernahme für die Anschaffung einer sog Normalbrille (ohne Tönung, Entspiegelung und Gleitsicht) als sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe besteht in der Regel nicht.
2. Für die Beurteilung, ob aufgrund einer Sehbeeinträchtigung eine Behinderung iS des § 2 Abs 1 SGB IX vorliegt, ist nach dem ab dem 1.1.2009 geltenden versorgungsrechtlichen Bewertungssystem, der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (VersMedV, BGBl I 2412), nicht die Sehleistung (ohne Brille), sondern in erster Linie die korrigierte Sehschärfe (mit Brille) maßgebend. Ist eine Sehschwäche wie zB eine Kurz- oder Weitsichtigkeit durch die Versorgung mit einer Sehhilfe ausgeglichen, besteht keine "Sehbeeinträchtigung" und damit auch keine "Sehbehinderung" mehr (vgl BSG vom 23.6.2016 - B 3 KR 21/15 R = SozR 4-2500 § 33 Nr 49, RdNr 25 f). Dies gilt entsprechend für die sozialhilferechtliche Bewertung einer Sehschwäche nach der Eingliederungshilfe-Verordnung (juris: BSHG§47V).
3. Eigenanteile (Zuzahlungen) zu Brillen und Brillengläsern sind in den für das Jahr 2012 geltenden Regelbedarfen als Ausgaben aus dem Bereich der Gesundheitspflege (Abteilung 6 der EVS 2008) mit einem regelbedarfsrelevanten Gesamtbetrag von 15,55 Euro je Monat berücksichtigt worden.
4. Der Umstand, dass ein sozialrechtlicher Anspruch auf Kostenübernahme für die Anschaffung einer sog Normalbrille (ohne Tönung, Entspiegelung und Gleitsicht) nicht besteht, verstößt nicht gegen die Verfassung.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 20. Januar 2014 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten für die Anschaffung einer Brille i.H.v. 178,50 € aus Sozialhilfemitteln.
Bei der 1984 geborenen Klägerin besteht ein Down-Syndrom. Sie ist erkrankt an Diabetes Mellitus Typ I und Zöliakie, außerdem weitsichtig bei einem Dioptrie-Wert von 6,5 (rechts) bzw. 6,0 (links) und als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 100 und den Merkzeichen G, H und RF anerkannt. Sie ist bei der im Berufungsverfahren beigeladenen Krankenkasse gesetzlich krankenversichert und bezieht Leistungen der sozialen Pflegeversicherung (bis Ende 2016 nach der Pflegestufe 2).
Die Klägerin lebte bis Ende 2016 im Haushalt ihrer Eltern, seit Januar 2017 wohnt sie in einem von ihr angemieteten Zimmer im Rahmen eines Wohnprojekts für behinderte Menschen. Sie besucht seit 2005 eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) mit Kostenübernahme durch die beklagte Stadt. Die Klägerin ist mit Ausnahme des Arbeitseinkommens, das sie durch ihre Tätigkeit in der WfbM erzielt (228,00 € je Monat), einkommens- und vermögenslos. Sie bezieht aus diesem Grund von der Beklagten (auch) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (Grundsicherungsleistungen).
Am 9. Juli 2012 beantragte der Vater der Klägerin, der ihr für sämtliche Angelegenheiten bestellte Betreuer, bei der Beklagten unter Vorlage einer augenärztlichen Sehhilfenverordnung vom 5. Juli 2012 eine Beihilfe zur Anschaffung einer Brille, die wegen der Verschlechterung des Sehvermögens der Klägerin erforderlich geworden war. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 10. Juli 2012 mit der Begründung ab, der geltend gemachte Bedarf sei in den Regelsätzen nach § 27a SGB XII enthalten und könne nicht gesondert neben den Grundsicherungsleistungen beansprucht werden. Zudem seien die Leistungen bei Krankheit nach § 48 SGB XII deckungsgleich mit den Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), die eine Kostenübernahme nur bei einer schweren Sehbeeinträchtigung vorsähen (§ 33 Abs. 2 Satz 2 SGB V), nicht aber im Fall der Klägerin. Nachdem gegen diese Entscheidung für die Klägerin Widerspruch erhoben worden war, übersandte ihr Vater der Beklagten einen Kostenvoranschlag der Firma Fielmann vom 25. Juli 2012 über einen Anschaffungspreis der Brille von 178,50 € (die Fassung für 24,50 € und Gläser zu je 77,00 €), auf dem handschriftlich mit einem Stempelzusatz die „Ablehnung der Krankenkasse“ vermerkt war. Nach Einholung eines weiteren (inhaltsgleichen) Kostenvoranschlags vom 9. August 2012 schaffte sich die Klägerin die Brille am 15. August 2012 zu den o.g. Kosten an und erwirkte am 8. Februar 2013 beim Sozialgericht (SG) Oldenburg gegen die Beklagte eine einstweilige Anordnung zur Übernahme der Anschaffungskosten (- S 22 SO 211/12 ER -). Den Widerspruch der Kläge...