Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenversicherungspflichtiges Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis. Ghettoarbeit. eigener Willensentschluss. Entgeltlichkeit. Ausschluss von Ansprüchen im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Unrecht durch das EVZStiftG
Orientierungssatz
1. Es existiert kein Grundsatz, dass es sich bei einer Beschäftigung während des Aufenthalts in einem Ghetto (hier: Ghetto Warschau) in der Regel um eine aus eigenen Willensentschluss zustande gekommene und gegen Entgelt ausgeübte Beschäftigung handelt. Vielmehr sind die Umstände des Einzelfalls entscheidend.
2. Bei der Auslegung der in § 1 Abs 1 Nr 1 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) vom 20.6.2002 (BGBl I 2002, 2074) verwandten Begriffe "aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen" und "gegen Entgelt ausgeübt" ist auf die Kriterien der Rechtsprechung des BSG zur Frage der versicherungsrechtlichen Einordnung und Abgrenzung von Zwangsarbeit zu versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses in einem Ghetto abzustellen (vgl BSG vom 14.7.1999 - B 13 RJ 75/98 R und BSG vom 14.7.1999 - B 13 RJ 61/98 R = SozR 3-5070 § 14 Nr 2).
3. Der Umstand, dass die Arbeit vom Judenrat zugewiesen oder vermittelt wurde, nachdem sich ein Verfolgter bei ihm um Arbeit bewarb, reicht allein nicht aus, um die Freiwilligkeit der verrichteten Arbeit bereits zu bejahen (vgl BSG vom 7.10.2004 - B 13 RJ 59/03 R = BSGE 93, 214 = SozR 4-5050 § 15 Nr 1). Entscheidend ist die Organisation und die Ausgestaltung des Arbeitseinsatzes, insbesondere, ob das Verhältnis des Verfolgten zum "Arbeitgeber" in erheblichem Umfang von Regeln geprägt war, die nicht durch einen zweiseitigen Vertrag mit dem "Arbeitgeber" vereinbart waren, sondern durch Regeln, die von Dritten aufgestellt waren.
4. Die Regelungen des ZRBG heben den Leistungsausschluss des § 16 Abs 1 S 2 des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZStiftG) vom 2.8.2000 (BGBl I 2000, 1263) nicht auf.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.11.2004 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten werden auch im Berufungsverfahren nicht erstattet. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Altersrente (ARG) unter Berücksichtigung von "Ghetto-Beitragszeiten" wegen einer Beschäftigung im Ghetto Warschau in der Zeit von August 1942 bis April 1943.
Der Kläger ist Jude. Nach der deutschen Besetzung im September 1939 hielt er sich mit seinen Eltern und Bruder in Polen auf. Das Ghetto Otwock wurde am 19.08.1942 aufgelöst. Es wurden ca 7.000 Juden nach Treblinka deportiert, vor den Deportationen wurden etwa 3.000 Juden erschossen. Einem Teil der Ghettobewohner gelang die Flucht. In der Zeit von Sommer 1942 bis April 1943 hielt sich der Kläger im Ghetto Warschau auf.
Seit November 1940 existierte in Warschau ein geschlossenes Ghetto. In der Zeit vom 22.07 bis 10/12.09.1942 wurden die Ghettobewohner in sog. "Umsiedlungsaktionen" systematisch in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort getötet. Die Deportationen wurden unter Leitung von SS-Sturmbannführer Höfle, dem Führer des Lubliner Kommandos, organisiert und durchgeführt. Dieser erließ am 22.07.1942 eine Anordnung an den Judenrat, der wie folgt lautete:
"Eröffnung und Auflage an den Judenrat. Dem Judenrat wird folgendes eröffnet: 1. alle jüdischen Personen, gleichgültig welchen Alters und Geschlechts, welche in Warschau wohnen, werden nach dem Osten umgesiedelt.
2. ausgenommen von der Umsiedlung sind: a) alle jüdischen Personen, die bei der deutschen Behörde oder Betriebsstelle beschäftigt sind und den Nachweis hierüber erbringen können b) alle jüdischen Personen, die dem Judenrat angehören und Angestellte des Judenrats sind ... c) alle jüdischen Personen, die bei reichsdeutschen Firmen beschäftigt sind und den Nachweis hierüber erbringen können; d) alle arbeitsfähigen Juden, die bisher nicht in den Arbeitsprozess eingereiht sind, diese sind im jüdischen Wohnbezirk zu kasernieren; ... g) alle jüdischen Personen, die engste Familienangehörige der unter a) bis f) aufgeführten Personen sind. Familienangehörige sind ausschließlich Ehefrauen und Kinder; ...
VIII. Strafen a) jede jüdische Person, die mit Beginn der Umsiedlung das Ghetto verlässt, ohne den unter Ziffer 2 a) und c) aufgeführten Personenkreis anzugehören und soweit sie dazu bisher nicht berechtigt war, wird erschossen; b) jede jüdische Person, die eine Handlung unternimmt, die geeignet ist, die Umsiedlungsmaßnahmen zu umgehen oder zu stören, wird erschossen; c) jede jüdische Person, die Mithilfe bei einer Handlung ausübt, die geeignet ist, die Umsiedlungsmaßnahmen zu umgehen oder zu stören, wird erschossen; d) alle Juden, die nach Abschluss der Umsiedlung in Warschau angetroffen werden, ohne den unter 2 a) bis h) aufgeführten Personenkreis anzugehören, werden erschossen."
Die Anordnung wurde durch den Judenrat im Ghetto veröffentlicht. Die Ghettobewohn...