Entscheidungsstichwort (Thema)

Anerkennung einer Verfolgungsersatzzeit

 

Orientierungssatz

1. Als Verfolgungsersatzzeit ist nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB 6 u. a. eine Zeit vor dem 1. 1. 1992 zu berücksichtigen, in der Versicherungspflicht nicht bestanden hat und der Versicherte nach vollendetem 14. Lebensjahr in seiner Freiheit eingeschränkt gewesen oder ihm die Freiheit entzogen worden ist, wenn er zum Personenkreis des § 1 BEG gehört.

2. Freiheitsentziehung i. S. von § 43 BEG ist zu verneinen, wenn sich der Betroffene während der fraglichen Zeit weder in Haft noch zwangsweise in einem Ghetto befand.

3. In seiner Freiheit i. S. von § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB 6 eingeschränkt war der Verfolgte, wenn er während der geltend gemachten Zeit den Judenstern getragen oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Illegalität gelebt hat.

4. Haftähnliche Bedingungen i. S. von § 43 Abs. 3 BEG sind dann zu bejahen, wenn der Verfolgte erheblichen und laufend streng überwachten Einschränkungen seiner Bewegungsfähigkeit unterworfen war und ein Leben führen musste, das dem eines Häftlings sehr nahe kam.

5. Zwangsarbeit als Heranziehung zu unfreiwilliger Arbeitsleistung ist nur dann einer Freiheitsentziehung gleichzustellen, wenn sie unter haftähnlichen Bedingungen ausgeübt worden ist.

6. Die Berücksichtigung einer Verfolgungsersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB 6 kommt nur dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen von § 43 BEG bzw. § 43 BEG i. V. m. § 47 BEG erfüllt sind.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 5.4.2007 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsrechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin von der Beklagten die Gewährung der Regelaltersrente (RAR) unter zusätzlicher Berücksichtigung von Verfolgungsersatzzeiten von September 1939 bis Oktober 1939 beanspruchen kann.

Die am 00.00.1924 geborene Klägerin war als Jüdin nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Sie lebt in Israel, sie ist israelische Staatsangehörige.

Die Klägerin gab in ihrem Entschädigungsverfahren (Az. 000, Amt für Wiedergutmachung in Saarburg) am 12.8.1955 an, bei Kriegsausbruch habe sie mit ihren Eltern und zwei Geschwistern in Lodz, Gdanska, gelebt. Es seien bald Sonderbestimmungen für die Juden erlassen worden. Sie hätten in den Abendstunden ihre Wohnung nicht verlassen dürfen, hätten eine gelbe Armbinde tragen müssen. Im Mai 1940 sei das Ghetto Lodz errichtet worden. Sie sei mit ihren Angehörigen dort inhaftiert worden und sie hätten Unterkunft in der Q St. 11 gefunden. Sie habe im Leder- und Sattler-Ressort arbeiten müssen.

In einer Erklärung vom 8.5.1957 gab die Klägerin ergänzend an, sie habe in Lodz, Polen, H-straße No. 10, gelebt, als die Deutschen dort im September 1939 einmarschiert seien. Bald nach deren Einmarsch hätten die antijüdischen Verordnungen begonnen. Ab Oktober 1939 habe sie gleich allen anderen Juden der Stadt erst die gelbe Armbinde und später den gelben Judenstern an Brust und Rücken befestigt tragen müssen. Außerdem hätten sie Sperrstunden einhalten müssen, hätten die öffentlichen Plätze nicht betreten dürfen und seien verschiedenen Verkehrsbeschränkungen unterworfen gewesen. Im Mai 1940 sei sie in das Ghetto Lodz eingeliefert worden.

Am 13.4.1966 führte die Klägerin wiederholend aus, dass sie bei Kriegsausbruch in Lodz gelebt habe. Nach dem Einmarsch der Deutschen seien sie den antijüdischen Maßnahmen unterworfen gewesen. Im Mai 1940 sei sie in das Ghetto Lodz gekommen, wo sie Zwangsarbeit im Leder- und Sattlerressort habe verrichten müssen.

Am 21.8.1966 wiederholte die Klägerin, dass sie nach dem Einmarsch der Deutschen in Lodz den antijüdischen Maßnahmen unterworfen gewesen sei und im Mai 1940 in das Ghetto Lodz gekommen sei, wo sie Zwangsarbeit habe verrichten müssen.

Die Erklärungen der Zeuginnen B vom 12.8.1955 und L vom 23.8.1955 im Entschädigungsverfahren der Klägerin enthalten keine Angaben zur streitbefangenen Zeit, sondern erst ab Mai 1940, dem Zeitpunkt der Inhaftierung der Klägerin im Ghetto.

Die Zeugin G bestätigte am 25.3.1957 die Angaben der Klägerin und erklärte, als die Deutschen im September 1939 ihre gemeinsame Heimatstadt Lodz besetzt hätten, seien nach kurzer Zeit die antijüdischen Maßnahmen ergangen, denen zufolge alle Juden und somit auch sie beide zuerst die gelbe Armbinde und kurze Zeit nachher den gelben Judenstern an Brust und Rücken angeheftet hätten tragen müssen. Sie seien verschiedenen Verkehrsbeschränkungen unterworfen gewesen und hätten Sperrstunden einhalten müssen. Das Betreten gewisser Straßen und Plätze sei ihnen verboten gewesen. Sie seien des öfteren von der Straße weg zu verschiedenen Zwangsarbeiten herangezogen worden. Im Mai 1940 sei sie gemeinsam mit der Klägerin in das Ghetto Lodz umgesiedelt worden.

Die Zeugin L gab am 6.6.1957 an, sie kenne die Klägerin aus Lodz bereits von Kindheit an. Kurz nach dem Einmarsch der Deutschen im September 1939 sei ...

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