Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragsbemessung in der Sozialversicherung. Zugrundelegung des arbeitsrechtlich geschuldeten Arbeitsentgelts. Entstehungsprinzip. Unerheblichkeit der Frage der Erfüllung des Mindestlohnanspruchs
Orientierungssatz
Maßgebend für die sozialversicherungsrechtliche Beitragsbemessung ist das dem Beschäftigten nach dem Entstehungsprinzip arbeitsrechtlich geschuldete Arbeitsentgelt. Die Frage, ob der Arbeitsentgeltanspruch in Höhe des Mindestlohns durch eine Sachzuwendung wirksam erfüllt wurde oder nur durch eine Geldzahlung erfüllt werden kann, ist bei der Verbeitragung des Arbeitsentgelts unbeachtlich.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.07.2020 geändert und der Bescheid der Beklagten vom 19.09.2018 in der Gestalt des Bescheides vom 27.02.2019 und des Widerspruchsbescheides vom 29.08.2019 aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert für den Berufungsrechtszug wird auf 4.337,21 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Betriebsprüfungsverfahrens nach§ 28p Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) über eine Nachforderung von Beiträgen und Umlagen zur Sozialversicherung in Bezug auf die Tätigkeit der Beigeladenen zu 1) und 2).
Die Klägerin, die im Bereich der Unternehmensberatung tätig ist, beschäftigte die Beigeladenen zu 1) (im Folgenden: E) und zu 2) (im Folgenden: B) zunächst in Vollzeit. Beiden wurde ein Kraftfahrzeug (Kfz) als Firmenfahrzeug mit privater Nutzung zur Verfügung gestellt. Im Jahr 2012 wechselte B (aus persönlichen Gründen) und im Jahr 2014 E (wegen der Aufnahme einer anderen hauptberuflichen Tätigkeit) in eine Teilzeittätigkeit bei der Klägerin.
Der mit E geschlossene Anstellungsvertrag vom 30.10.2014 (im Folgenden: AV-E) sah beginnend am 01.11.2014 für die Tätigkeit als Mitarbeiterin "Research" (§ 3 AV-E) eine "Arbeitszeit von 28 Stunden im Monat und damit 7 Stunden in der Woche" (§ 4 AV-E) vor. Das Entgelt wurde wie folgt geregelt:
§ 5
Als Entgelt für die in § 3 dieses Vertrags bezeichnete Tätigkeit zahlt "L." E ein monatliches Bruttogehalt in Höhe von EUR 280,-. Dieses Gehalt wird in Form einer Sachleistung Dacia Sandero Stepway, als Firmenfahrzeug mit privater Nutzung, zur Verfügung gestellt. (...)
Ab 01.04.2015 reduzierte E ihre Tätigkeit für die Klägerin auf eine Arbeitszeit von 12 Stunden monatlich. In dem hierzu geschlossenen neuen Anstellungsvertrag vom 30.03.2015 (im Folgenden: AV-E-2015) wurde in § 5 das zu zahlende monatliche Bruttogehalt bei im Übrigen gleichbleibendem Wortlaut auf 150 Euro festgelegt. Aufgrund eines Versehens berechnete die Klägerin E ab Mai 2015 eine (höhere) monatliche Vergütung von 197,88 Euro.
Der mit B geschlossene Anstellungsvertrag vom 31.01.2012 (im Folgenden: AV-B) sah beginnend am 01.02.2012 für die Tätigkeit als Mitarbeiterin "Organisation und Buchhaltung" (§ 3 AV-B) eine "Arbeitszeit von 32 Stunden im Monat und damit 8 Stunden in der Woche" (§ 4 AV-B) vor. Das Entgelt wurde wie folgt geregelt:
§ 5
Als Entgelt für die in § 3 dieses Vertrags bezeichnete Tätigkeit zahlt "L." B ein monatliches Bruttogehalt in Höhe von EUR 480,-. Dieses Gehalt wird in Form einer Sachleistung VW Sharan, als Firmenfahrzeug mit privater Nutzung, zur Verfügung gestellt. (...)
Alle drei Verträge sehen in § 11 S. 3 (gleichlautend) vor, dass die Wirksamkeit des übrigen Vertrags von einer Unwirksamkeit einzelner Bestimmungen des Vertrags nicht berührt wird.
Die Klägerin entrichtete an die Einzugsstelle Sozialversicherungsbeiträge, deren Berechnung sie den jeweilig mit B und E in § 5 des AV vertraglich vereinbarten monatlichen Bruttolohn bzw. die der E ab Mai 2015 berechnete höhere monatliche Vergütung zugrunde legte.
Im Verhältnis zu B und E ermittelte sie für die von ihr zur Verfügung gestellten Kfz den jeweiligen geldwerten Vorteil der privaten Nutzung. Soweit das Bruttogehalt den errechneten "Kfz-Wert" überstieg, zahlte sie den übersteigenden Differenzbetrag aus. War der "Kfz-Wert" dagegen höher als das vertraglich vereinbarte Gehalt, erhielt sie von der Beschäftigten eine (den überschießenden Betrag entsprechende) Ausgleichszahlung.
In der Zeit vom 04.06. bis 27.08.2018 führte die Beklagte bei der Klägerin eine Betriebsprüfung nach§ 28p SGB IV für den Zeitraum vom 01.01.2014 bis 31.12.2017 durch. Nach Anhörung mit Schreiben vom 19.07.2018 setzte sie Nachforderungen in Höhe von insgesamt 5.356,72 Euro einschließlich Säumniszuschlägen in Höhe von 1.019,50 Euro fest (Bescheid vom 19.09.2018). Für E und B sei in der Zeit vom 01.01.2015 bis zum 31.12.2017 der gesetzliche Mindestlohn, der nach dem Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz - MiLoG vom 11.08.2014) seit dem 01.01.2015 in Höhe von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde und seit dem 01.01.2017 in Höhe von 8,87 Euro brutto je ...