Entscheidungsstichwort (Thema)
Nacherhebung. Gesamtsozialversicherungsbeiträge. Zuflussprinzip. Entstehungsprinzip. Vertrauensschutz
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Beitragserhebung ist nicht das tatsächlich erzielte (“zugeflossene”), sondern das tarifvertraglich geschuldete Arbeitsentgelt zugrundezulegen, da die Entstehung von Beitragsansprüchen nicht davon abhängt, dass der Arbeitgeber das Entgelt tatsächlich gezahlt hat, sondern es vielmehr ausreichend ist, dass zum Fälligkeitszeitpunkt der Beiträge ein Entgeltanspruch bestand.
2. Die Frage des Vertrauensschutzes könnte sich nur stellen, wenn dem Arbeitgeber bekannt war, dass kollektivvertraglich ein höheres als das individualvertraglich vereinbarte und tatsächlich gezahlte Entgelt geschuldet wurde.
3. Vertrauensschutz muss jedenfalls dann verneint werden, wenn das Verhalten des Vertrauensschutz beanspruchenden Schuldners sich als Verstoß gegen die Rechtsordnung darstellt. Dies ist der Fall, wenn der Arbeitgeber die geltenden tarifvertraglichen Regelungen verletzt.
Normenkette
SGB V § 123 Abs. 2, § 226 Abs. 1; SGB VI §§ 161, 162 Nr. 1; SGB XI § 57 Abs. 1; SGB III § 341 Abs. 3, § 342; SGB IV § 28e Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
SG Gelsenkirchen (Urteil vom 11.04.2001; Aktenzeichen S 17 KR 56/01) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 11.04.2001 geändert und die Klage abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen aufgrund tarifvertraglich geschuldeten, aber nicht gezahlten Arbeitsentgelts.
Der Kläger betreibt eine Gaststätte (…), in der er u.a. die Beigeladene zu 2) – seine Ehefrau – seit November 1993 beschäftigte. Sie war nach dem Arbeitsvertrag vom 01.05.1994 an 30 Stunden in der Woche in der Küche und zur Bedienung der Gäste beschäftigt. Das vereinbarte monatliche Entgelt betrug 2.300,-- DM. Es bestand ein Urlaubsanspruch von 30 Tagen.
Mit Wirkung vom 01.01.1995 war der Manteltarifvertrag (MTV) für das Gaststätten- und Hotelgewerbe des Landes Nordrhein-Westfalen zwischen dem Gastgewerbe NRW-Hotel- und Gaststättenverband Nordrhein-Westfalen e.V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Landesbezirk Nordrhein-Westfalen vom 23.03.1995, gültig ab 01.01.1995, für allgemeinverbindlich erklärt (Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) vom 30.10.1995, BAnz Nr. 230 vom 07.12.1995, S. 12 262). Der MTV sieht u.a. Ansprüche auf eine jährliche Sonderzahlung (“Weihnachtsgeld”) und Urlaubsgeld vor.
Aufgrund einer Betriebsprüfung am 23.08.2000 für den Prüfzeitraum Januar 1996 bis 30.06.2000 forderte die Beklagte mit Bescheid vom 07.12.2000 Gesamtsozialversicherungsbeiträge sowie Beiträge zur Umlage U1/U2 in Höhe von insgesamt 4.196,67 DM nach. Mit Ausnahme eines unstreitigen Betrages von 31,26 DM betrifft die Nachberechnung Beiträge aus tarifvertraglich geschulde ten, aber nicht gezahlten Sonderzuwendungen bzw. Urlaubsgeld für drei Arbeit nehmer, wobei die Nachberechnung für die Beigeladene zu 2) für den Zeitraum vom 01.01.1996 bis 31.12.1999 vorgenommen worden ist. Zur Begründung führte die Beklagte aus, der Beitragsanspruch richte sich nach den vom Arbeitgeber tatsächlich gezahlten, darüber hinaus aber auch nach den geschuldeten Leistungen. Soweit tarifvertragliche Ansprüche – auch aufgrund allgemeinver bindlicher Tarifverträge (TV) – bestünden, seien insoweit Beiträge zu entrichten, auch wenn diese Ansprüche nicht erfüllt worden seien. Da im Rahmen der Prüfung festgestellt worden sei, dass Weihnachts- und Urlaubsgelder nicht abgerechnet worden seien, würden Beiträge von den entsprechenden Entgelten nacherhoben. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, Grundlage der Beitragsbemessung sei nur das tatsächlich gezahlte, nicht aber ein tarifvertraglich geschuldetes “fiktives” Arbeitsentgelt. Mit Widerspruchsbescheid vom 23.03.2001 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Im Klageverfahren hat der Kläger vorgetragen, im Beitragsrecht der Sozialversicherung gelte ebenso wie im Steuerrecht unverändert das Zuflussprinzip, es sei denn, der Arbeitgeber verhalte sich vertragswidrig. Für den Fall der untertariflichen Bezahlung gehe die Rechtsprechung nach wie vor vom Zuflussprinzip aus. Jedenfalls verstoße die rückwirkende Beitragserhebung gegen den auch im Beitragsrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben. Die Umsetzung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei zunächst unter den Rentenversicherungsträgern umstritten gewesen. Erst seit Anfang 2000 habe die dienstliche Weisung an die Prüfdienste bestanden, gezielt Beiträge aus geschuldetem Entgelt zu erheben. Weder er noch sein Steuerberater hätten Kenntnis davon gehabt, dass Sozialversicherungsbeiträge angeblich nach dem geschuldeten, nicht aber nach dem tatsächlich gezahlten Entgelt zu entrichten seien. Die Beklagte hat eingeräumt, gegenüber der Steuerberaterkammer Münster im März 1999 geäussert zu haben, man werde...