Entscheidungsstichwort (Thema)
Zahlbarmachung von Rente aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Ghetto Gorlice. rentenversicherungspflichtiges Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis. Ghettoarbeit. Entgeltlichkeit. freier Unterhalt. Befriedigung kleinerer Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten. gute Verpflegung
Orientierungssatz
Zum Vorliegen von Zeiten einer Beschäftigung in einem Ghetto iS von § 1 Abs 1 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) vom 20.6.2002 (BGBl I 2002, 2074) ≪hier: Beschäftigung im Ghetto Gorlice in der Zeit von Mai 1940 bis Juli 1942≫ (Anschluss an BSG vom 7.10.2004 - B 13 RJ 59/03 R = BSGE 93, 214 = SozR 4-5050 § 15 Nr 1, Entgegen BSG vom 14.12.2006 - B 4 R 29/06 R).
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von im Ghetto Gorlice zurückgelegten Beitragszeiten von Mai 1940 bis Juli 1942.
Die ....1925 geborene Klägerin ist als Verfolgte im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt. Am 30.05.2003 beantragte sie die Gewährung einer Altersrente unter Bezugnahme auf das "Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG)". Zur Begründung machte sie geltend, vom Mai 1940 bis Juli 1942 habe sie im Ghetto Gorlice Küchenarbeit (Geschirr waschen, Gemüse, Kartoffeln, spülen) geleistet. Ihre Mutter habe diese Arbeit freiwillig angenommen und nach deren Erkrankung habe sie ihre Mutter vertreten. Als Entlohnung habe sie Esswaren (drei Mahlzeiten pro Tag) und Kleidung erhalten. Die Beklagte zog daraufhin die Entschädigungsakten über gewährte Leistungen nach dem BEG von der Bezirksregierung Düsseldorf bei. In diesen Akten befindet sich u. a. eine eidesstattliche Versicherung der Klägerin vom September 1956, in der sie angegeben hatte:
"Bei Ausbruch des Krieges wohnte ich in Gorlice. Kurz nach dem Einmarsch der Deutschen wurde ich gezwungen, den Judenstern am Arm zu tragen und Zwangsarbeiten unter haftähnlichen Bedingungen zu leisten. Schon ab Oktober 1939 musste ich einige Tage in der Woche zwangsweise und ohne Lohn arbeiten und ab 1940 jeden Tag. Im Mai 1940 wurde in Gorlice ein Ghetto errichtet. Es war bei Todesstrafe verboten, das Ghetto zu verlassen, und ich war vollkommen von der Außenwelt abgeschlossen. Ich wurde weiterhin zu Zwangsarbeiten bei deutschen Behörden herangezogen. Im Jahre 1941 versuchte ich, aus dem Ghetto zu fliehen. Es misslang mir jedoch und ich wurde wieder zurückgeholt. Ich wurde damals aufs Schlimmste misshandelt und geschlagen und leide seitdem an starken Kopfschmerzen. Ich war bis Juli 1942 im Ghetto von Gorlice. Zu dieser Zeit wurde ich in das Zwangsarbeitslager und spätere KZ Plaszow verschickt. Dort arbeitete ich in der Großschneiderei und blieb bis September 1944. Dann brachte man mich in das KZ Auschwitz, wo ich nur kurze Zeit blieb und noch im selben Monat, im September 1944 in das KZ Kratzau deportiert wurde. Im KZ Kratzau musste ich sehr schwer arbeiten und wurde oft misshandelt. Ende April oder Anfang Mai 1945 wurde ich dort von russischen Truppen befreit. Nach meiner Befreiung ging ich nach Polen zurück, wo ich bis August 1947 blieb und dann nach Frankreich auswanderte".
Nach Auswertung weiterer eidesstattlicher Versicherungen des Herrn B W vom 18.10.1956 und des Herrn J G vom 16.01.1958, die die Aussagen der Klägerin vollinhaltlich bestätigten, lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 21.04.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.09.2004 ab; die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG (Tätigkeit aus eigenem Willensentschluss) und der Nr. 2 (Beschäftigung gegen Entgelt) seien nicht erfüllt. Nach den eigenen Angaben habe sich die Klägerin von Mai 1940 bis Juli 1942 im Ghetto Gorlice befunden und dort eine Tätigkeit als Küchenhilfe ausgeübt. Im Hinblick auf die im früheren Entschädigungsverfahren (1956) sehr viel zeitnäher zum Verfolgungsschicksal abgegebene eidesstattliche Versicherung sei das Kriterium "eigener Willensentschluss" nicht glaubhaft. Im damaligen Entschädigungsverfahren habe die Klägerin angegeben, dass sie ab 1940 jeden Tag zwangsweise ohne Lohn habe arbeiten müssen und auch nach der Errichtung des Ghettos weiterhin zu Zwangsarbeiten bei deutschen Behörden herangezogen worden sei. Dies sei auch durch zwei Zeugen bestätigt worden. Es beständen des Weiteren Zweifel, dass die Klägerin für ihre zwangsweise geleistete Arbeit eine wesentliche, über die eigene Verpflegung hinausgehende Vergütung erhalten habe. Eine Entlohnung in Form von Sachzuwendungen lediglich für den eigenen täglichen Überlebensbedarf und ggf. demjenigen der Familie reiche nicht aus, um ein Beschäftigungsverhältnis im sozialversicherungsrechtlichen Sinne zu begründen. Als Entgelt im Sinne des § 1 ZRBG komme zwar eine Entlohnung in Form von "Ghetto-Geld" oder ähnlicher Zuwendungen in Betracht. Es sei jedoch nicht glaubhaft, dass die Klägerin derartige Zuwendungen erhalten habe. So habe der Zeuge J G angegeben,...