Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Impfentschädigung. rückwirkende Anerkennung eines Impfschadens nach 32 Jahren im Überprüfungsverfahren. rückwirkende Leistungserbringung. Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB 10. Begrenzung der Entschädigungsleistungen auf die letzten vier Jahre. Anwendung auch auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Begrenzung rückwirkender Leistungen kein Härtefall nach § 89 BVG. Verfassungsmäßigkeit
Orientierungssatz
1. Es stellt keine unbillige besondere Härte im Sinne von § 89 BVG iVm § 54 Abs 3 BSeuchG bzw § 60 IfSG dar, wenn sich nicht aus der Anwendung eben jener Gesetze, sondern aus der Anwendung eines anderen Gesetzes - hier konkret der Vorschrift § 44 Abs 4 SGB 10 - eine unbillige Härte ergibt (vgl BSG vom 25.7.1967 - 9 RV 310/66 = BSGE 27, 75 = SozR Nr 1 zu § 89 BVG).
2. Dass § 44 Abs 4 SGB 10 die rückwirkende Erbringung von Leistungen im Fall der Aufhebung von gesetzeswidrigen Sozialleistungen zu Unrecht verweigernden Ablehnungsentscheidungen auf einen Zeitraum von längstens vier Jahren beschränkt, ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl BSG vom 8.2.2012 - B 5 R 38/11 R = SozR 4-5075 § 3 Nr 1).
3. Die Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB 10 gilt selbst dann, wenn im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Leistung rückwirkend verlangt werden kann (vgl BSG vom 27.3.2007 - B 13 R 58/06 R = BSGE 98, 162 = SozR 4-1300 § 44 Nr 9, vom 27.3.2007 - B 13 R 34/06 R und vom 24.4.2014 - B 13 R 23/13 R = UV-Recht Aktuell 2014, 721).
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 13.10.2020 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung eines Härteausgleichs gemäß § 54 Abs. 3 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) bzw. dem an 01.01.2001 in Kraft getretenen § 60 Infektionsschutzgesetz (IfSG) i.V.m. § 89 Bundesversorgungsgesetz (BVG) für die Zeit ab dem 25.04.1975, d.h. dem Tag des Erstantrags, bis zum 31.12.2006. Im Vordergrund des Rechtsstreits steht die Frage, ob der Beginn der von dem Beklagten erbrachten Versorgungsleistungen durch die 4-Jahres-Frist des § 44 Abs. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X begrenzt wird.
Der am 1952 geborene Kläger, dessen Antrag auf Versorgung wegen eines Impfschadens zunächst mit Bescheid vom 28.09.197 abgelehnt worden war, erhält aufgrund eines Ausführungsbescheides des Beklagten vom 05.10.2017 Versorgungsleistungen ab dem 01.01.2007. Grundlage jenes Bescheides ist eine Verurteilung des Beklagten durch das Sozialgericht (SG) Mainz im Verfahren S 11 VJ 2/13. Der Rechtsstreit betraf die Gewährung von Leistungen aufgrund eines am 20.12.2011 beantragten Zugunstenverfahrens wegen einer im Jahr 1958 erfolgten (Dreifach-) Impfung des Klägers gegen Keuchhusten, Diphtherie und Wundstarrkrampf. In dem Urteil stellte das SG fest, dass der Kläger im Juni 1958 zusammen mit anderen Kindern seines Wohnortes in der Schule geimpft und danach an Kinderlähmung erkrankt sei, weshalb ihm gemäß § 51 Abs. 1 S. 1 BSeuchG ein Anspruch auf Versorgung nach den Vorschriften des BVG zustehe. Dem Kläger stünden entsprechende Versorgungsleistungen unter Berücksichtigung des § 44 Abs. 4 SGB X ab dem 01.01.2007 zu.
Mit Antrag vom 29.01.2018 machte der Kläger Ansprüche auf Gewährung von Härteausgleich gemäß § 54 Abs. 3 BSeuchG i.V.m. § 89 BVG geltend. Sein bereits am 24.04.1975 gestellter Antrag auf Anerkennung eines Impfschadens habe der Beklagte zunächst mit Bescheid vom 28.09.1978 abgelehnt. Sein im Dezember 2011 gestellter Überprüfungsantrag sei erfolgreich gewesen, allerdings habe das SG ihm Leistungen erst ab dem 01.01.2007 zugesprochen. Dies bedeute, dass er seit April 1975 bis 31.12.2006 keine Impfentschädigung bzw. keine Versorgungsleistungen erhalten habe, obwohl er seit 1958 an Kinderlähmung leide. Die ihm durch die Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X entstandenen finanziellen Nachteile seien mit Sinn und Zweck der Impfentschädigung unvereinbar und stellten eine unbillige Härte dar. Bei pflichtgemäßer Bearbeitung des im April 1975 gestellten Antrags hätte er eine monatliche Grundrente ab Antragstellung erhalten müssen. Zivilrechtliche Schadensersatzansprüche bestünden ebenfalls nicht, weil ihnen die Einrede der Verjährung entgegenstünde. Für den Zeitraum von 32 Jahren und sechs Monaten seien ihm Versorgungsleistungen entgangen. Da die exakte Höhe der seit 1975 zu zahlenden monatlichen Grundrente nicht bekannt sei, werde der durch die entgangene Grundrente verursachte Schaden vorerst auf mindestens 200.000,00 € geschätzt. Die besondere Härte bestehe darin, dass die bei ihm durchgeführte Dreifachimpfung bereits behördlich untersagt gewesen sei. Die betreffenden Richtlinien des Innenministeriums vom 05.03.1958 und dessen Schreiben vom 28.05.19...