Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsarzt. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Arzneikostenregress. Verordnung von Oxaliplatin im Rahmen des Off-Label-Use bei inoperablem Pankreaskarzinom im Ausnahmefall
Leitsatz (amtlich)
Zu einem Ausnahmefall, in dem die von der arzneimittelrechtlichen Zulassung nicht gedeckte Behandlung eines inoperablen Pankreaskarzinoms mit Oxaliplatin aufgrund grundrechtsorientierter Erweiterung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung zulässig ist.
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 26. November 2009 und der Bescheid des Beklagten vom 06. Oktober 2006 aufgehoben.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 2.272,62 € festgesetzt.
Tatbestand
Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Arzneikostenregresses.
Der Kläger ist Direktor des Zentrums für Innere Medizin des Universitätsklinikums L…. Durch Beschluss des Zulassungsausschusses Ärzte L… vom 11.03.2003 war er für die Zeit vom 01.04.2003 bis zum 31.03.2005 zur ambulanten Therapie des gesicherten Pankreaskarzinoms in der vertragsärztlichen Versorgung ermächtigt.
Ein am …1947 geborener Versicherter der beigeladenen Krankenkasse befand sich vom 12.08.2004 bis zum 27.08.2004 zur stationären Krankenhausbehandlung im Universitätsklinikum L…. Während dieses Krankenhausaufenthalts wurde bei ihm ein fortgeschrittenes inoperables Pankreaskarzinom diagnostiziert und am 25.08.2004 eine palliative Chemotherapie mit Gemcitabin und Oxaliplatin begonnen, die nach der Krankenhausentlassung fortgesetzt wurde. In diesem Zusammenhang ließ der Kläger dem Versicherten am 30.09.2004 durch Dr. Sch… auf einem Kassenrezept Gemcitabin und Oxaliplatin verordnen.
Wegen der Verordnung von Oxaliplatin beantragte die Beigeladene mit Schreiben vom 27.06.2005 unter Vorlage eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 04.08.2005 die Feststellung eines sonstigen Schadens gemäß § 12 der Prüfvereinbarung. Oxaliplatin sei für die Behandlung von Pankreaskarzinomen nicht zugelassen. Die Voraussetzungen für einen zulassungsüberschreitenden Einsatz (Off-Label-Use) seien nicht erfüllt. Nach einer kürzlich veröffentlichten Phase III-Studie (Louvet et al., Journal of Clinical Oncology, 23 [2005], 3.509-3.516) zeige die Kombinationstherapie mit Gemcitabin und Oxaliplatin gegenüber der Monotherapie mit Gemcitabin keinen statistisch signifikanten Vorteil im Hinblick auf das Überleben (over all survival); nur klinisch (clinical benefit) habe ein Vorteil nachgewiesen werden können, der jedoch mit einer höheren Toxizität verbunden gewesen sei. Der Kläger erwiderte, im Zeitpunkt der Behandlung habe für die Kombinationstherapie in Abstract-Form der Nachweis eines verlängerten progressionsfreien Überlebens und infolge dessen einer Verbesserung des Allgemeinbefindens (clinical benefit) vorgelegen; die Ergebnisse seien 2005 voll publiziert worden (Louvet et al., a.a.O.). Dem Versicherten gehe es ein Jahr nach der Diagnosestellung weiterhin gut. Daher könne der individuelle Heilversuch als erfolgreich angesehen werden. Mit Prüfbescheid vom 13.02.2006 setzte der Prüfungsausschuss wegen der Verordnung von Oxaliplatin einen Regress in Höhe von 2.272,62 € fest. Die Verordnung sei außerhalb der zugelassenen Indikation erfolgt. Oxaliplatin sei nur zur Behandlung des metastasierenden kolorektalen Karzinoms zugelassen. Eine Wirksamkeit bei Pankreaskarzinom sei nicht nachgewiesen.
Mit seinem hiergegen gerichteten Widerspruch machte der Kläger geltend, das Pankreaskarzinom gehöre zu den bösartigsten Tumoren. Bei inoperablem Zustand überlebten die meisten Patienten nicht länger als 6 Monate. Auch für das in der Palliativtherapie zugelassene Gemcitabin sei nur eine Lebensqualitätsverbesserung dokumentiert, aber keine eindeutige Lebensverlängerung. Der Krankheitsverlauf des Versicherten habe gezeigt, dass die Individualentscheidung für eine Kombinationstherapie mit Gemcitabin und Oxaliplatin richtig gewesen sei. Unter dieser Kombinationstherapie sei es gelungen, dass der Versicherte bei relativ guter Lebensqualität nach Diagnosestellung fast noch 2 Jahre gelebt habe (gestorben am 17.06.2006). Der beklagte Beschwerdeausschuss wies mit Bescheid vom 06.10.2006 den Widerspruch zurück. Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use lägen nicht vor. Die wissenschaftliche Datenlage sei zum Zeitpunkt der Behandlung nicht gesichert gewesen. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98 - SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) sei erst nach der Behandlung ergangen und könne daher nicht berücksichtigt werden.
Der Kläger hat am 06.11.2006 beim Sozialgericht Dresden (SG) Klage erhoben. Der Off-Label-Use sei sehr wohl zulässig gewesen. Die Phase III-Studie von Louvet et al. sei bereits 2004 auf der Jahrestagung der American Society of Clinical Onc...