Entscheidungsstichwort (Thema)

Arzneimittel. Verschreibungspflicht. Arzneimittelrichtlinien. Anschluss. Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Off-Label-Use. Post-Polio-Syndrom

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Sachleistungsanspruch in der gesetzlichen Krankenversicherung besteht grundsätzlich nur hinsichtlich apothekenpflichtiger, verschreibungspflichtiger Arzneimittel.

Ausnahmen müssen in den AMR positiv geregelt sein (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt).

Die Rechtsprechung des BSG zum Off-Label-Use (vgl. Urteil vom 19.10.2004, B 1 KR 27/02 R) setzt regelmäßig voraus, dass über Ursachen und Wirkungsweisen der Erkrankung hinreichende Kenntnisse bestehen.

Es besteht kein Sachleistungsanspruch, wenn ein Arzneimittel sich lediglich positiv auf Symptome einer Krankheit ausgewirkt hat, ohne dass irgend ein Ursachenzusammenhang erkennbar ist.

 

Normenkette

SGB V § 31 Abs. 1, § 34 Abs. 1 S. 2; AMR

 

Verfahrensgang

SG Schleswig (Entscheidung vom 21.02.2005; Aktenzeichen S 8 KR 79/04)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 21. Februar 2005 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben sich die Beteiligten für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Kostenerstattung für ein nicht verschreibungspflichtiges Medikament.

Die 1949 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Sie leidet unter einem Post-Polio-Syndrom, einer Erkrankung als Folge einer durchgemachten Poliomyelitis. Sie wurde seit Jahren mit dem Medikament Biocarn behandelt, das den Wirkstoff L-Carnitin enthält, einem apotheken-, aber nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel. Sie beantragte am 4. Dezember 2003 bei der Beklagten die Kostenübernahme für die Verschreibungen des Medikaments über den 31. Dezember 2003 hinaus und legte der Beklagten Arztberichte aus der Medizinischen Hochschule Hannover vom 26. November 1997 und 31. August 1998 über den Einsatz des Medikaments vor. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Schleswig-Holstein vom 12. Dezember 2003 (Gutachter Dr. S.) ein. Darin ist ausgeführt, das Arzneimittel sei zur Substitution bei primärem und sekundärem systhemischen Carnitinmangel zugelassen, der sich bei Muskeldystrophie und/oder Kardiomyopathie darstelle, als Behandlungsversuch bei Sonderformen der Muskeldystrophie mit Lipidakumulation, die auf einem primären muskulären Carnitinmangel beruhe, zur Ergänzung der Behandlung bei progressiver Muskeldystrophie und zum Ersatz dialysebedingter L-Carnitinverluste. Unter der Diagnose Post-Polio-Syndrom werde eine Symptomatik mehrerer Spätfolgen nach vorangegangener Poliomyelitis zusammengefasst. Seine Ursachen seien ungeklärt, es gebe derzeit keine kausale Therapie. Neben allgemeinen Maßnahmen, Physiotherapie mit Atemtraining und Einsatz von Hilfsmitteln werde eine medikamentöse Standardbehandlung nicht angeboten, jedoch würden überwiegend die Wirkstoffe L-Carnitin und Mestinon eingesetzt. Mestinon könne zu Nervenzellschädigungen führen und dürfe nur von einem erfahrenen Neurologen eingesetzt werden. Mit Bescheid vom 9. Januar 2004 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, Versicherte hätten grundsätzlich einen Anspruch auf Versorgung mit allen zugelassenen und nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossenen apothekenpflichtigen Arzneimitteln. Außerhalb der Zulassungsindikation dürfe ein Medikament nur dann abgegeben werden, wenn eine schwerwiegende, d. h. lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung vorliege, für die es keine andere Therapie gebe, und wenn die begründete Aussicht bestehe, dass das betreffende Präparat einen Behandlungserfolg bewirke. Dies setze voraus, dass entweder bereits die Erweiterung der Zulassung beantragt sei und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht seien oder dass über die Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen vorlägen, auf Grund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über den Nutzen des Medikaments bestehe. Diese Voraussetzungen lägen für rezeptfreie Arzneimittel ab 1. Januar 2004 nicht mehr vor. Gegen die Entscheidung legte die Klägerin am 29. Januar 2004 Widerspruch ein, mit dem sie ausführte, das Post-Polio-Syndrom sei eine rückläufige Erkrankung, da der Impfschutz gegen die Poliomyelitis sehr dicht sei. In Deutschland seien 80.000 Personen an dem Syndrom erkrankt. Daher gebe es keine Langzeitstudien für das Medikament. Allerdings hätten die Erfahrungen der Medizinischen Hochschule Hannover gezeigt, dass das Arzneimittel zu Befundverbesserungen führe. Ausweislich eines Schreibens des Bundesverbandes Poliomyelitis e.V., das die Klägerin beifügte, habe das Medikament positive Effekte,...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Haufe Kranken- und Pflegeversicherungs Office enthalten. Sie wollen mehr?