Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Multiple Sklerose. Gleichstellung mit lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen. Therapie mit Immunglobulinen stellt erfolgversprechende Alternative zu immunmodulatorischen Behandlung dar
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Multiplen Sklerose handelt es sich um eine die Lebensqualität derart nachhaltig beeinträchtigende Krankheit, dass sie den lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen iS der Entscheidungen des BVerfG vom 6.12.2005 (1 BvR 347/98 = BVerfGE 115, 25) gleichzustellen ist.
2. Für die Therapie der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose stellt die Behandlung mit Immunglobulinen eine erfolgversprechende Alternative zur zugelassenen immunmodulatorischen Behandlung dar. Ihre Kosten sind von der gesetzlichen Krankenversicherung bei einer stillenden Mutter aufgrund der sofortigen Wirksamkeit und der geringeren Nebenwirkungen zu übernehmen.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 1. Februar 2006 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch für die Berufungsinstanz zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte zur Übernahme der Kosten einer Therapie der Klägerin mit intravenös verabreichten Immunglobulinen (IVIG) verpflichtet ist.
Die 1969 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. 2002 wurde bei ihr anlässlich eines stationären Aufenthaltes im Krankenhaus I. eine Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert. Am 30. Mai 2003 unterrichtete der sie behandelnde Neurologe F. die Beklagte darüber, dass im vergangenen Jahr aufgrund Krankheitsaktivität durch ihn die Indikation zur immunmodulatorischen Behandlung gestellt worden sei. Zu der Behandlung sei es nicht gekommen, da die Klägerin schwanger geworden sei. Entsprechend seiner Empfehlung seien nach der Entbindung (diese erfolgte am 14. Mai 2003) zur Verhinderung einer postpartalen Krankheitsaktivitätssteigerung mit Schub in der Klinik IVIG verabreicht worden. Diese wirkten bei der schubförmigen MS und könnten während der Stillphase, anders als Interferone und Copaxone, ohne Beeinträchtigung des Kindes gegeben werden. Er bitte daher um Bestätigung, dass im Falle der weiteren Verordnung der Immunglobuline über einen Zeitraum von sechs Monaten durch die Krankenkasse kein Prüfantrag wegen eines sonstigen Schadens gestellt werde.
Die Beklagte holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein und teilte dem Neurologen F. mit Bescheid vom 1. Juli 2003 mit, eine Kostenübernahme komme nicht in Frage und von einer Regressierung bei Verordnung über Kassenrezept müsse ausgegangen werden. Durch den MDK werde das Präparat Copaxone als mögliche Behandlungsalternative angesehen. Hiergegen legte die Klägerin, die eine Durchschrift des Schreibens erhielt, Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, sie werde durch die Entscheidung der Beklagten kostenmäßig belastet. Die Leistungspflicht der Beklagten ergebe sich aus der Rechtsprechung zum sog. Off-Label-Use. Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 11. November 2003 den Widerspruch zurück.
Die Klägerin hat am 27. November 2003 beim Sozialgericht Itzehoe Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen: Aufgrund der zwischenzeitlichen Forschungsergebnisse bestehe eine begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Insoweit sei auch auf das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 8. Oktober 2002 (L 1 KR 5/02) hinzuweisen. Ihr seien Kosten für die Behandlung in Höhe von 11.302,00 EUR entstanden. Dazu hat die Klägerin eine Kostenaufstellung vom 18. Juni 2003 bis 11. Oktober 2004 und entsprechende Privatrezepte des Neurologen F., ausgestellt auf das Medikament Venimmun, vorgelegt. Ergänzend hat sie vorgetragen, am 15. oder 16. Mai 2003 seien ihr das erste Mal durch das Krankenhaus Immunglobuline verabreicht worden. Sie sei darauf hingewiesen worden, dass diese Behandlung während der Stillzeit fortgesetzt werden müsse.
Die Beklagte hat auf das vom MDK eingeholte Gutachten sowie auf ein aktualisiertes Grundsatzgutachten des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) aus Oktober 2003 über den Einsatz von Immunglobulinen bei MS verwiesen.
Das Sozialgericht hat ein neuropsychiatrisches Fachgutachten des Neurologen Dr. K. eingeholt und mit Urteil vom 1. Februar 2006 unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide die Beklagte verurteilt, der Klägerin die für die Beschaffung der Immunglobuline entstandenen Kosten in Höhe von 11.302,00 EUR zu erstatten. Zur Begründung hat es ausgeführt: Grundsätzlich habe die Versicherte im Rahmen der Kostenerstattung die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten, bevor sie mit der Behandlung beginne. Ausnahmen hiervon bestünden bei besonderen Bedarfslagen. Davon sei hier auszugehen. Denn es sei der Klägerin zwar m...