Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Anwendbarkeit auf Unionsbürger. europarechtskonforme Auslegung. Gleichbehandlungsgebot

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Vorschrift des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist europarechtskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass sie nur dann Anwendung findet, wenn die Arbeitsuche bereits Zweck der Einreise war. Eine wortgetreue Anwendung des Leistungsausschlusses auf sämtliche Fälle, in denen ein Unionsbürger zum Zeitpunkt der Stellung eines Leistungsantrags ein Aufenthaltsrecht nur zum Zweck der Arbeitsuche hat, ohne Ansehung des ursprünglichen Zwecks der Einreise würde gegen vorrangig anwendbares Europarecht verstoßen.

2. Es ist zweifelhaft, ob der Leistungsausschluss gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 nicht gegen den - unmittelbar anwendbaren - Art 4 EGV 883/2004 verstößt. Danach haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Gem Art 3 Abs 3 iVm Art 70 iVm Anh 10 EGV 883/2004 gilt dieser Gleichbehandlungsgrundsatz auch für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die Verordnung gilt nach Art 2 EGV 883/2004 jedenfalls für alle Unionsbürger.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 25.01.2012; Aktenzeichen B 14 AS 138/11 R)

 

Tenor

1. Der Bescheid vom 11. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Mai 2009 (W …/09) wird aufgehoben und der Beklagte wird verurteilt, den Klägern dem Grunde nach Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ab dem 19. Januar 2009 bis 30. September 2009 als Zuschuss zu gewähren.

2. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger.

3. Die Sprungrevision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger begehren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die am …1990 geborene Klägerin zu 1) ist polnische Staatsbürgerin. Sie reiste im Oktober 2004 mit ihren Eltern nach Deutschland ein und lebt seitdem ununterbrochen in B. Ab dem 14. November 2008 war sie in der Sch Straße .. … B gemeldet (vgl. Bl. 18/19 der Verwaltungsakte). In der Wohnung Sch Straße ..zahlte die Klägerin monatlich eine Nettokaltmiete in Höhe von 200,00 EUR und Betriebskostenvorauszahlungen in Höhe von 140,00 EUR (vgl. Bl. 20 der Verwaltungsakte). Im Juni 2010 zog die Klägerin zu 1) in ihre derzeitige Wohnung in der D Straße .., ... B.

Am 23. Juli 2008 stellte die Bundesagentur für Arbeit der Klägerin zu 1) eine unbefristete Arbeitsberechtigung-EU für berufliche Tätigkeiten jeder Art aus (vgl. Bl. 19 der Gerichtsakte). Mit Datum vom 13. Januar 2009 stellte das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten der Klägerin zu 1) eine Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU aus (vgl. Bl. 16 der Verwaltungsakte).

Am 19. Januar 2009 stellte die Klägerin zu 1) einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II bei dem Beklagten. Am 2. Februar 2009 gebar sie ihren Sohn, den Kläger zu 2), der ebenfalls die polnische Staatsbürgerschaft hat. Der Kindsvater zahlte seitdem Unterhalt in Höhe monatlich 200,00 EUR. Außerdem erhielt die Klägerin zu 1) seit der Geburt Elterngeld in Höhe von monatlich 300,00 EUR und Kindergeld in Höhe von monatlich 164,00 EUR (vgl. Bl. 54 der Gerichtsakte und Bl. 56 der Verwaltungsakte). Weitere Einnahmen hatte sie nach den vorliegenden Unterlagen nicht.

Mit Bescheid vom 11. März 2009 lehnte der Beklagte den Leistungsantrag der Klägerin zu 1) ab. Zur Begründung führte er an, dass sie aufgrund von § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei, weil sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland lediglich zur Arbeitssuche habe.

Mit Bescheid vom 7. Mai 2009 bewilligte der Beklagte den Klägern in Umsetzung eines Beschlusses des Sozialgerichts vom 30. April 2009 darlehensweise Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum 30. März 2009 bis September 2009 (Az. S 128 AS …/09 ER).

Den gegen die Ablehnung des Leistungsantrags eingelegten Widerspruch der Klägerin zu 1) vom 30. März 2009 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 2009 zurück. Für Einzelheiten wird auf den Widerspruchsbescheid verwiesen (Bl. a der Gerichtsakte).

Mit ihrer am 10. Juni 2009 beim Sozialgericht eingegangenen Klage verfolgen die Kläger ihr Anliegen weiter. Zur Begründung führen sie an, dass die Klägerin zu 1) bis zur Geburt ihres Kindes mit ihrem Vater zusammen gewohnt habe. Der Vater habe seit Einreise in die Bundesrepublik im Oktober 2004 als Selbstständiger gearbeitet und tue dies ihres Wissens nach weiterhin. Die Eltern der Klägerin zu 1) hätten sich im Jahr 2006 getrennt. Im Jahr 2009 habe ihre Mutter, die die mit dem jüngeren Bruder der Klägerin zu 1) zusammenlebt, Leistungen nach dem SGB II beantragt und auch erhalten. Die Eltern hätten seit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland eine Freizügigkeitsbescheinigung gehabt. Der Vater sei dafür selbst zur Bundesagentur für Arbeit gegangen...

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