Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Abfindung einer Rente gem § 78 Abs 1 S 1 SGB 7. fester Abfindungszeitraum gem § 79 SGB 7: 10 Jahre. Ermessensfehlgebrauch des Unfallversicherungsträgers. unzureichende Lebenserwartung des Versicherten. Prüfung der Lebenserwartung. Prognoseentscheidung. Versagung einer Abfindung. Versagungsgründe. Nachweis. hohe Wahrscheinlichkeit. ärztliches Sachverständigengutachten. 82 Jahre alter Versicherter
Orientierungssatz
1. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut des § 79 SGB 7 (anders als bei der Abfindung bei einer MdE von unter 40 vH, vgl § 76 SGB 7, der keinen Abfindungszeitraum nennt) und mit der herrschenden Meinung ist von einem festen Abfindungszeitraum von zehn Jahren auszugehen
2. Zwar kann der Unfallversicherungsträger als zulässigen Ablehnungsgrund eine unzureichende Lebenserwartung des Klägers mit in seine Ermessensentscheidung einbeziehen. Wegen des festen Abfindungszeitraums bezieht sich die Prüfung der Lebenserwartung der Versicherten nicht darauf, ob eine Abweichung von der üblichen Lebenserwartung anzunehmen ist, sondern darauf, ob tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass mit dem Tod vor Ablauf des Abfindungszeitraums von 10 Jahren zu rechnen ist. Dabei ist die Beurteilung der Lebenserwartung eine Prognoseentscheidung, bei der der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung keinen Beurteilungsspielraum hat.
3. Die Abfindung kann versagt werden, wenn nach der besonderen Schwere des Gesundheitszustandes und der Entwicklungstendenz der Leiden des Berechtigten auf dessen Ableben vor Ablauf des Abfindungszeitraumes mit hoher Wahrscheinlichkeit geschlossen werden muss. Kann mit dem Tod in einem weitgehend zuverlässigen überschaubaren Zeitraum (etwa 3 Jahre) nicht gerechnet werden, ist die hohe Wahrscheinlichkeit zu verneinen.
4. Ob im Einzelfall die negative Prognose, dass mit dem Tod in einem weitgehend zuverlässigen überschaubaren Zeitraum gerechnet werden kann, zutrifft, haben die Unfallversicherungsträger aufgrund ermittelbarer medizinischer Daten in der Regel durch Einholung ärztlicher Gutachten zu ermitteln.
Tenor
Der Bescheid vom 15.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.11.2014 wird aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, über den Abfindungsantrag des Klägers vom 19.03.2014 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Abfindung einer Rente.
Der 1932 geborene Kläger hatte am 08.07.2001 einen Arbeitsunfall erlitten. Die Beklagte hatte dem Kläger zunächst eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 40 v. H. bewilligt (Bescheid vom 30.04.2003). Mit Bescheid vom 26.05.2004 hatte die Beklagte dem Kläger eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 40 v. H. bewilligt (jährliche Rente = 10.133,15 Euro). Auf seinen Antrag hin hatte die Beklagte mit Bescheid vom 12.07.2004 die Rente des Klägers nach einer MdE von 40 v. H. teilweise abgefunden. In medizinischer Hinsicht hatte sie zuvor bei dem Internisten Dr. D. ein ärztliches Gutachten eingeholt, aus dem sich eine normale (keine herabgesetzte) Lebenserwartung ergab. Als Risikofaktoren hatte der Sachverständige Übergewicht, leichte Aorteninsuffizienz und Grenzwerthypertonie genannt (Gutachten vom 28.05.2004).
Mit Schreiben vom 19.03.2014 beantragte der Kläger eine erneute Abfindung seiner Rente. Mit Bescheid vom 15.04.2014 lehnte die Beklagte eine erneute Rentenabfindung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass unter Berücksichtigung des Geburtsjahrgangs des Klägers und seines bisher erreichten Lebensalters nach der aktuellen Generationensterbetafel die Gewährung einer Abfindung nach pflichtgemäßem Ermessen nicht möglich sei. Hierbei habe die Beklagte das „wohlverstandene“ Interesse des Klägers mit den Interessen der Allgemeinheit abgewogen. Schutzwürdige Interessen der Allgemeinheit seien insbesondere dann betroffen, wenn die Gefahr bestehe, dass der Antragsteller vor Ablauf von 10 Jahren versterbe.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Dieser wurde durch seine damalige Bevollmächtigte dahingehend begründet, dass der Kläger sich bei der Beklagten mehrfach erkundigt habe, ob nach Ablauf der ersten Rentenabfindung eine weitere möglich sei, was immer wieder bejaht worden sei. Der Kläger habe seine finanzielle Lebensplanung auch aufgrund dieser Auskünfte vorgenommen. Gesundheitliche Gründe stünden der erneuten Rentenabfindung nicht entgegen, da sein Gesundheitszustand gut sei und keinerlei Anhaltspunkte dafür bestünden, dass sich dies in nächster Zeit ändern werde. Die ausschließliche Berücksichtigung des Lebensalters des Klägers sei im Gesetz nicht vorgesehen.
Die Beklagte beauftragte den Hausarzt des Klägers, Herrn Dr. E., mit der Erstattung eines Gutachtens zur Frage der Lebenserwartung. Unter dem 08.09.2014 legte Dr. E. einen ärztlichen Bericht mit Stellungnahme zur Lebenserwartung vor. Aus diesem er...