Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsätzliche Befristung der Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Bewilligung der Rente wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes
Orientierungssatz
1. Kann ein Versicherter noch drei Stunden pro Arbeitstag, aber keine sechs Stunden mehr arbeiten, so kommt es zur Beurteilung, ob er voll erwerbsgemindert ist, darauf an, ob für entsprechende Erwerbstätigkeiten Arbeitsplätze vorhanden sind, die der Versicherte mit seinen Kräften und Fähigkeiten noch ausfüllen kann.
2. Dem Versicherten ist der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, wenn ihm weder der Rentenversicherungsträger noch das zuständige Arbeitsamt innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrags einen für ihn in Betracht kommenden Arbeitsplatz anbieten kann.
3. In einem solchen Fall ist wegen der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes neben dem Leistungsfall der teilweisen Erwerbsminderung zugleich auch der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung eingetreten.
4. Steht dem Versicherten nur wegen einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes Rente wegen voller Erwerbsminderung zu, so ist diese nach § 102 Abs. 2 S. 1 SGB 6 zu befristen.
Tenor
1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 17.10.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.09.2014, geändert durch Bescheid vom 09.02.2016, verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 01.01.2016 bis 31.12.2017 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.
2. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer vollen Erwerbsminderungsrente nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI).
Der Kläger (geb. 1959) absolvierte eine Berufsausbildung zum Bauzeichner (1975 bis 1978). Seitdem hat er (unterbrochen durch den Grundwehrdienst von 1980 bis 1981) eine Festanstellung beim C.-Kreis inne, seit 1984 als Sachbearbeiter Bauunterhaltung Schulbauten in Vollschicht. Der Kläger war dort mit folgenden Aufgaben betraut:
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Assistenz Bauunterhaltung: Unterstützung der Objektmanager (z.B. Rechnungsprüfung, Durchführung von Angebotsöffnungen, Angebotsprüfung etc.) |
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Erfassung und Dokumentation von Verbrauchsdaten der Schulen im Kreisgebiet |
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Mitarbeit bei der monatlichen Prüfung der Turnhallenbücher auf dokumentierte Mängel, Beanstandungen oder Schäden und Weitergabe der Informationen an den zuständigen Objektmanager zur Veranlassung von Reparaturen etc. |
Zuletzt absolvierte er nur noch reine Bürotätigkeiten ohne Außendienst. Im Bereich Bauzeichnung war er dabei nicht mehr eingesetzt.
Seit Ende 2007 ist der Kläger in psychiatrischer Behandlung. Mit Bescheid vom 22.04.2008 erkannte das Versorgungsamt Gießen einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 ohne Merkzeichen an (Depressive Störung, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, Schwerhörigkeit mit Ohrengeräuschen rechts). Eine ambulante Psychotherapie mit 50 Sitzungen wurde bei Frau D. ab 2009 durchgeführt.
Im Dezember 2012 erkrankte der Kläger arbeitsunfähig und erhielt vom 13.01.2013 bis 19.05.2014 Krankengeld. Bis November 2015 bezog er ALG I. Es besteht nur noch ein faktisches Arbeitsverhältnis beim C.-Kreis mit ruhenden Ansprüchen.
Am 12.02.2013 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine Erwerbsminderungsrente.
Nach Anforderung ärztlicher Befundberichte holte die Beklagte ein Gutachten bei Dr. med. E. ein, der nach Untersuchung des Klägers am 11.09.2013 folgende Diagnosen stellte: 1. Mittelgradiger depressiver Verstimmungszustand mit deutlichen Angstgefühlen; 2. Bluthochdruck mit Linksherzhypertrophie; 3. Paroxysmale Tachykardien; 4. Übergewicht; 5. Chronisches Ohrgeräusch rechts. Nach dem Gutachten besteht ein Leistungsvermögen von arbeitstäglich sechs Stunden und mehr für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit Einschränkungen, nicht aber für die bisher ausgeübte berufliche Tätigkeit. Die Erwerbsfähigkeit wurde als deutlich gefährdet eingestuft und eine Reha-Maßnahme in einer psychosomatischen Klinik befürwortet.
Mit Bescheid vom 17.10.2013 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung verwies sie auf das Gutachten. Zwar sei eine Tätigkeit im bisherigen Beruf als Bauzeichner/Sachbearbeiter nicht mehr vollschichtig möglich. Als Aushilfe im Büro, Registrator oder Poststellenmitarbeiter könne er jedoch in diesem Umfang arbeiten.
Den am 13.11.2013 erhobenen Widerspruch begründete der Kläger damit, dass er nicht mehr in der Lage sei, vollschichtig zu arbeiten. Er sei seit 2008 schon öfters arbeitsunfähig gewesen für sechs, acht bzw. zwölf Wochen, je nach Dauer der depressiven Phase. Die Dauer dieser Phasen werde immer länger. Trotz seit 2007 bestehender Behandlung hätten sich die Depressionen verschlimmert. Er sitze am Tisch und sei nicht fähig aufzustehen. Der Kopf sei voller Gedanken, die er nicht verarbeiten könne. Er sei nicht fähig, anderen zuzuhören und andere Gedanken in den Kopf zu bekommen. An Arbeitstagen sei er ab 10:00 Uhr nicht mehr in der Lage, sich zu konzentrieren. Hinzukä...