Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennung von Verfolgungsersatzzeiten. nationalsozialistische Verfolgung. Jude. Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen im Ghetto Lodz Polen
Leitsatz (amtlich)
1. Die in den ersten Monaten der Besetzung Polens durch die Deutschen erfolgte Heranziehung von Juden zur Zwangsarbeit - hier in den Monaten September und Oktober 1939 in Lodz - erfolgte in der Regel unter kontinuierlicher Aufsicht bei Strafandrohung für den Fall des Verlassens des Arbeitsortes. Es handelt sich um Maßnahmen der Freiheitsentziehung, die als Verfolgungsersatzzeiten anzuerkennen sind.
2. Wenn neben der jüdischen Bevölkerung auch die nichtjüdische polnische Bevölkerung von Zwangsarbeit betroffen war, ändert dies am Charakter der Zwangsarbeit als gegen die Juden gerichtete Verfolgungsmaßnahme nichts.
Orientierungssatz
Die ab September bis Oktober 1939 in Lodz erfolgte Heranziehung von Juden zur Zwangsarbeit erfolgte in der Regel unter haftähnlichen Bedingungen. Auch wenn nicht täglich Zwangsarbeit verrichtet werden musste, ist der entsprechende Monat als Verfolgungsersatzzeit gem § 250 Abs 1 Nr 4 SGB 6 anzuerkennen.
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 21.05.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2003 wird geändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die dem Kläger gewährte Regelaltersrente unter Berücksichtigung verfolgsbedingter Ersatzzeiten im September und Oktober 1939 neu zu berechnen.
3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Berücksichtigung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten im September und Oktober 1939 in L.
Der Kläger wurde 1923 in B./Oberschlesien geboren. Wegen der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen verließ er mit seinen Eltern im Jahre 1934 seinen Heimatort und verzog nach L./Polen. Seit dem Jahr 1947 lebt der Kläger in den USA. Er ist als Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt.
Im Verfahren zur Durchführung des Bundesentschädigungsgesetzes beim Regierungspräsidium Darmstadt (Az. xxx) hat der Kläger im Jahre 1966 eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, in der es heißt: “Ich habe in L. die jüdische höhere Schule besucht. Nach Ausbruch des Krieges im Jahre 1939 wurde die Schule geschlossen, so dass damit meine Ausbildung ein Ende fand. Meine Absicht war, Rechtswissenschaft zu studieren (..) Einige Zeit nach der Besetzung Polens wurde ich auf der Straße von SS-Leuten festgenommen und zu Zwangsarbeiten herangezogen. Da ich bis zu diesem Zeitpunkt nie körperliche Arbeiten verrichtet hatte, war ich nicht in der Lage, die SS-Leute durch meine Arbeit zufrieden zu stellen. Ich wurde wiederholt aufs Schwerste misshandelt."
In einem in der Entschädigungsakte befindlichen ärztlichen Gutachten aus dem Jahr 1967 heißt es über den Kläger, er sei bis 1939, “d.h. bis zur Besetzung von L. durch die Deutschen" zur Schule gegangen. Er habe versucht, nach Warschau zu entkommen, sei aber aufgegriffen und nach L. zurückgebracht worden. Hier habe er Zwangsarbeiten verschiedenster Art - Reinigen von Straßen, Latrinen u.a., verrichten müssen. Eines Tages sei er von mehreren SS-Männern festgenommen und gezwungen worden, eine Straße außerhalb von L. zu reinigen. Als er nicht schnell genug habe arbeiten können, sei er so schwer misshandelt worden, dass er bewusstlos geworden sei.
In einem weiteren ärztlichen Gutachten aus dem Jahr 1967 heißt es, der Kläger habe die Schule (Volks- und Mittelschule) bis zu seinem 16. Lebensjahr besucht, “musste dann jedoch eine weitere Schulbildung, wie er vorhatte, abbrechen aus Gründen der beginnenden Verfolgung." Gleich nach der Besetzung seiner Heimat im September 1939 sei er zu verschiedenen Zwangsarbeiten herangezogen worden.
Mit Bescheid vom 24.1.2002 gewährte die Beklagte dem Kläger ab 1.10.2000 Regelaltersrente unter Anerkennung von Beitragszeiten aus einer Beschäftigung des Klägers im Ghetto L.
Mit Schreiben vom 18.9.2002 machte der damalige Bevollmächtigte des Klägers unter Hinweis auf die Regelungen des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) die rückwirkende Gewährung der Rente ab dem 1.7.1997 geltend. Die Beklagte stellte daraufhin die dem Kläger gewährte Regelaltersrente mit Bescheid vom 21.5.2003 zum 1.7.1997 unter Anwendung des ZRBG neu fest. Bei der Berechnung der Rente berücksichtigte sie Verfolgungsersatzzeiten ab 16.11.1939.
Gegen den Bescheid erhob der damalige Bevollmächtigte des Klägers am 17.6.2003 Widerspruch und bat um Berücksichtigung der Verfolgungsmonate September und Oktober 1939.
Mit Widerspruchsbescheid vom 24.10.2003 wurde der Widerspruch durch die Beklagte zurückgewiesen. Gem. § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI seien Ersatzzeiten bei Freiheitsentziehung im Sinne des § 43 BEG oder Freiheitseinschränkung im Sinne des § 47 BEG anzuerkennen. Nach § 47 Abs. 1 BEG liege eine Freiheitsbeschränkung u.a. dann vor, wenn der Verfolgte den Judenstern getragen habe. Diese Voraussetzung habe in den eingegliederten O...