Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Widerspruchsverfahren gegen die Aufhebung der Arbeitslosengeldbewilligung wegen Ausübung einer Beschäftigung. Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes. erweiterter Zeitraum. Anforderungen an eine reformatio in peius ≪Verböserung≫. Anhörung. Erforderlichkeit eines weiteren Ausgangs- bzw Änderungsbescheids
Leitsatz (amtlich)
1. Das Verbot der reformatio in peius (Verböserung) bedeutet nicht, dass die Behörde während des laufenden Widerspruchsverfahrens grundsätzlich gehindert ist, die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld über den im Ausgangsbescheid geregelten Zeitraum hinaus zu erweitern. Voraussetzung für eine Verböserung während des laufenden Widerspruchsverfahrens ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts jedoch, dass gerade auch in Bezug auf die Verböserung die allgemeinen Voraussetzungen für die Rücknahme oder Aufhebung des ursprünglichen Bescheides im Sinne der §§ 45 bzw 48 SGB 10 vorliegen (vgl BSG vom 5.5.1993 - 9/9a RVs 2/92 = SozR 3-3870 § 4 Nr 5).
2. Aus diesen Vorgaben folgt zunächst, dass der Betroffene vor der Verböserung erneut gemäß § 24 SGB 10 angehört werden muss. Darüber hinaus darf die Verböserung nicht unmittelbar im Widerspruchsbescheid geregelt werden. Die Behörde ist vielmehr gehalten, hinsichtlich der über den Ausgangsbescheid hinausgehenden Verschlechterung der Rechtsposition des Widerspruchsführers einen weiteren Ausgangs- bzw Änderungsbescheid zu erlassen. Anderenfalls würde dem Betroffenen eine Prüfungsebene abgeschnitten.
Tenor
I. Der Widerspruchsbescheid vom 02. Oktober 2012 wird dahingehend abgeändert, dass die hier erstmals geregelte Rücknahme von Arbeitslosengeld I für den Zeitraum 01. bis 14. Dezember 2011 aufgehoben wird.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rücknahme und Erstattung von Arbeitslosengeld I (Alg I).
Der Kläger meldete sich am 16. Februar 2011 mit Wirkung zum 01. März 2011 persönlich bei der Beklagten arbeitslos, nachdem er zuvor beim "A.... f... B.... C..... GmbH", deren Eigentümerin seine Exfrau war, in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis als Physiotherapeut gestanden hat.
Der Kläger bezog im Folgenden von der Beklagten Alg I in Höhe vom 15,56 Euro kalendertäglich im Zeitraum vom 01. März 2011 bis zum 14. Dezember 2011 (Bescheid vom 26. April 2011 und Änderungsbescheide vom 02. Mai 2011 und vom 12. Mai 2011).
Mit Schreiben vom 16. April 2012 teilte das Hauptzollamt B-Stadt der Beklagten mit, dass ein Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen des Verdachts des Betruges eingeleitet worden sei. Es bestehe der Verdacht, dass der Kläger nach Ausscheiden aus der Praxis bis mindestens 17. November 2011 weiterhin Privatpatienten seiner Exfrau zu Hause aufgesucht und physiotherapeutisch betreut habe. Hierfür habe er - ohne Wissen seiner Exfrau - weiterhin Rechnungen unter dem Briefkopf der Praxis seiner Exfrau ausgestellt, die mit dem Bankkonto der neuen Lebensgefährtin des Klägers ausgestattet waren.
Mit Schreiben vom 19. Mai 2012 hörte die Beklagte den Kläger daraufhin zu einer Rücknahme und Erstattung von Alg I im Zeitraum vom 01. März 2011 bis zum 30. November 2011 an. Zur Begründung führte sie aus, ausgehend von den vom Hauptzollamt vorgelegten Rechnungen habe der Kläger im fraglichen Zeitraum einen Gewinn von 15.295,48 Euro erwirtschaftet. Er habe somit keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I.
Mit Schreiben vom 19. April 2012 nahm der Kläger dahingehend Stellung, dass er im Zeitraum vom 01. März 2011 bis zum 31. Juli 2011 unentgeltlich für seine Exfrau tätig gewesen sei. Die Rechnungen seien im Namen seiner Exfrau ausgestellt gewesen. Es sei vereinbart gewesen, dass die Einnahmen der Tilgung von Verbindlichkeiten in Höhe von ca. 100.000,-- Euro dienten, die seine Exfrau bei seiner neuen Lebensgefährtin habe. Um den Zahlungsweg abzukürzen, sei die Bankverbindung seiner neuen Lebensgefährtin unmittelbar auf die Rechnungen aufgenommen worden. Ab dem 01. August 2011 sei er gar nicht mehr als Physiotherapeut tätig gewesen. Er habe in dieser Zeit lediglich seiner neuen Lebenspartnerin im Umfang von ca. 2 Wochenstunden beim Aufbau deren neu eröffneter Praxis geholfen.
Mit Schreiben vom 20. Juni 2012 führte der Kläger ergänzend aus, dass er auch im Zeitraum vom 01. September 2011 bis zum 15. Dezember 2011 als Physiotherapeut tätig gewesen sei, jedoch bei seiner neuen Lebensgefährtin und nur in einem zeitlichen Umfang von ca. 6-7 Stunden wöchentlich.
Mit Bescheid vom 05. Juli 2012 nahm die Beklagte die Bewilligung von Alg I im Zeitraum vom 01. März 2011 bis zum 30. November 2011 zurück. Zur Begründung führt sie erneut aus, dass der Kläger ab dem 01. März 2011 ein ständiges Nebeneinkommen erzielt habe, das seinen Leistungssatz übersteige. Der Kläger wurde zur Rückzahlung von Alg I in Höhe von 4.201,20 Euro sowie zur Erstattung von Beiträ...