Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch einer in der Geschlechtsidentität gestörten Person auf Kostenerstattung für eine Mastektomie (Brustentfernung) durch die Krankenkasse
Orientierungssatz
1. Krankheit i. S. von § 27 Abs. 1 S. 1 ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf.
2. Die Inkongruenz von Geschlecht und primären bzw. sekundären Geschlechtsmerkmalen macht als solche einen Störungswert aus, der nach § 27 SGB 5 erforderlich ist, um Leistungen der Krankenkasse zu beanspruchen.
3. Zur notwendigen Krankenbehandlung der Transidentität können auch operative Eingriffe in den gesunden Körper zwecks Veränderung der äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmale gehören. Die operativen Eingriffe in den gesunden Körper müssen medizinisch erforderlich sein.
4. Intergeschlechtlichkeit, Transgeschlechtlichkeit und weitere Formen sind gleich zu behandeln. Rechtlich sind keine Unterschiede zu machen.
5. Die Mastektomie als männlich machende Operation im Brustbereich ist notwendige Krankenbehandlung i. S. von § 27 Abs. 1 SGB 5, wenn durch diese Maßnahme der massive Leidensdruck des Versicherten gemindert und damit einhergehend dessen Identitätsgefühl gestärkt und die Einschränkung der Lebensqualität reduziert wird.
Tenor
Der Bescheid vom 05.12.2019 und der Widerspruchsbescheid vom 22.10.2020 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der klagenden Person die Kosten der am 28.05.2020 erfolgten Mastektomie und der insofern erforderlichen Wundversorgung zu erstatten.
Die Beklagte hat der klagenden Person deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Kostenerstattung für eine Mastektomie nebst erforderlicher Wundversorgung.
Die am ... mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geborene und daher personenstandsrechtlich damals als weiblich registrierte klagende Person ließ im Oktober 2019 ihren Vornamen und die Geschlechtsangabe im Geburtenregister ändern, als Geschlecht ist nunmehr "ohne Angabe" eingetragen.
Am 04.12.2019 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung einer Mastektomie. Sie fügte bei einen undatierten Arztbrief von Herrn ... Assistenzarzt in der Klinik für plastische und ästhetische Chirurgie im ... Krankenhaus in ... in dem als Diagnose Transidentitäre Geschlechtsidentitätsstörung mit dem Therapievorschlag subkutane Mastektomie, stationär, ausgeführt ist. Bei der klagenden Person bestehe der Wunsch der geschlechtangleichenden Operation. Zwei unabhängige psychologische Gutachten seien in Bearbeitung. Eine Personenstandsänderung sei erfolgt. Eine Hormontherapie werde nicht durchgeführt.
Mit Bescheid vom 05.12.2019 wurde der Antrag von der Beklagten abgelehnt. Aufgrund der Unterlagen könne eine medizinische Notwendigkeit nicht bestätigt werden. Das Vorliegen eines manifesten Transsexualismus sei nicht belegt. Insbesondere sei die Alltagserprobung und die Durchführung einer psychotherapeutischen oder psychiatrischen Behandlung von mindestens 18 Monaten Dauer nicht nachgewiesen.
Hiergegen legte die klagende Person mit Schreiben vom 20.12.2019 Widerspruch ein. Wann dieser bei der Beklagten einging, lässt sich aus der Verwaltungsakte nicht entnehmen. Die erwartete Diagnose Transsexualismus sei von vornherein falsch, da sie nicht auf sie als nicht-binäre Person zutreffe. Die im Bescheid genannten Voraussetzungen der Behandlung verstießen gegen das Leistungsrecht. Die klagende Person führte aus, sie sei weder Mann noch Frau, also nicht-binär.
Daher sei im Personenstandsregister nunmehr "keine Angabe" erfasst. Die verwendete Begutachtungsanleitung entspreche nicht mehr dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse, insofern sei die neue S3-Leitlinie von Februar 2019 zu berücksichtigen. Dort sei auch ausgeführt, dass Dauer und Zeitaufwand für die Diagnostik fallbezogen variabel seien. Nach Möglichkeit sei zu versuchen, den diagnostischen Prozess so kurz wie möglich zu halten, um den Leidensdruck nicht unnötig zu verlängern. Daher sei auch die Alltagserprobung von mindestens 18 Monaten nun nicht mehr Voraussetzung. Vielmehr werde ausgeführt, dass modifizierende Behandlungen körperlicher Geschlechtsmerkmale für Personen, die solche Behandlungen in Anspruch nehmen wollten, die Therapie der ersten Wahl seien. Sie wolle nicht männlich sein, es gebe aber zwischen "männlich" und "weiblich" ein breites Spektrum.
Sie habe durch ihren weiblichen Körper eine Geschlechtsinkongruenz mit einhergehendem Leidensdruck. Eine Operation in Form der Mastektomie würde ihren Körper in die Mitte des Spektrums schieben und somit der nicht-binären Geschlechtsidentität angleichen, welches auch die Geschlechtsinkongruenz beheben würde. Sie sei transidentitär, durch die Diskrepanz zwischen Geschlechtsidentität und dem durch das Vorhandensein von Brüsten gelebten Geschlecht verspüre sie erheblichen Leidensdruck, weshalb auch von einer Geschlechtsidentitätsstörung gesprochen werden könne, auch wenn die Bezeichnung Geschlec...