Entscheidungsstichwort (Thema)
Konkurrentenstreit. Auswahlentscheidung. Ausschöpfung dienstlicher Beurteilungen. Chancengleichheit. Frauenförderung. Unionsrechtskonforme Auslegung. Öffnungsklausel. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Sind die Bewerber um ein Beförderungsamt im Gesamturteil ihrer aktuellen dienstlichen Beurteilungen gleich beurteilt worden, ist der Dienstherr verpflichtet, den weiteren Inhalt der Beurteilungen zu würdigen. Der im Bereich der Binnendifferenzierungen vorzunehmende Leistungsvergleich ist durch die in der jeweiligen Beurteilung getroffene Gesamtbewertung nicht “verbraucht”.
2. § 10 Abs. 1 und Abs. 3 ChancenG sind unionsrechtskonform auszulegen und anzuwenden. Sind Bewerberinnen und Bewerber nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung gleich qualifiziert, darf den Bewerberinnen kein automatischer und unbedingter Vorrang eingeräumt werden, vielmehr muss in jedem Einzelfall gewährleistet sein, dass alle die Bewerber betreffenden persönlichen Besonderheiten in den Blick genommen werden.
3. Eine bevorzugte Beförderung von Frauen kommt nicht in Betracht, wenn in der Person eines männlichen Mitbewerbers “Gründe von größerem rechtlichen Gewicht” entgegenstehen. Im Rahmen der insoweit erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung sind auch die in § 10 Abs. 3 Satz 1 ChancenG genannten Gesichtspunkte in den Blick zu nehmen.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 2 S. 2; ChancenG § 10 Abs. 1, 3 S. 1; RL 2006/54/EG Art. 14 Abs. 1 Buchst. a; AEUV Art. 157 Abs. 4; EU-GR-Charta Art. 23 S. 1
Verfahrensgang
VG Stuttgart (Beschluss vom 14.03.2011; Aktenzeichen 13 K 5225/10) |
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. März 2011 – 13 K 5225/10 – wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wird: Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, die vorgesehenen Beförderungsstellen nach der Besoldungsgruppe A 11 mit den Beigeladenen zu besetzen, solange nicht über die Bewerbung des Antragstellers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu entschieden ist.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird unter Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für beide Rechtszüge auf jeweils 10.000,– EUR festgesetzt.
Gründe
Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte (§ 147 Abs. 1 VwGO) und begründete (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) sowie inhaltlich den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechende Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu Recht untersagt, die für Januar 2011 vorgesehenen Beförderungsstellen nach der Besoldungsgruppe A 11 mit den Beigeladenen zu besetzen, solange nicht über die Bewerbung des Antragstellers neu entschieden ist. Der erstinstanzliche Tenor ist lediglich klarstellend neu zu fassen, nachdem sich das Verfahren nur auf die Beigeladenen bezieht. Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), sind nicht geeignet, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen.
Ein abgelehnter Bewerber, dessen Bewerberanspruch durch eine fehlerhafte Auswahlentscheidung des Dienstherrn verletzt worden ist, kann eine erneute Entscheidung über seine Bewerbung zumindest dann beanspruchen, wenn deren Erfolgsaussichten bei einer erneuten Auswahl offen sind, seine Auswahl also möglich erscheint. Dieser Prüfungsmaßstab ist – wie im Hauptsacheverfahren – auch im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung anzulegen, wobei die Anforderungen an die Glaubhaftmachung ebenfalls nicht strenger sein dürfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.09.2002 – 2 BvR 857/02 –, DVBl 2002, 1633; BVerwG, Urteil vom 04.11.2010 – 2 C 16.09 –, DVBl 2011, 228 und Beschluss vom 20.01.2004 – 2 VR 3.03 –, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 23 m.w.N.; Senatsbeschlüsse vom 12.04.2005 – 4 S 439/05 –, NVwZ-RR 2005, 585 und vom 04.07.2008 – 4 S 2834/07 –). So liegt es hier, denn das Auswahlverfahren leidet zu Lasten des Antragstellers an mehreren Fehlern und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Fehlerhaftigkeit für die getroffene Auswahlentscheidung kausal gewesen ist.
Ein Beamter, der die Übertragung eines höherwertigen Dienstpostens (Beförderungsdienstposten) oder eine mit einer Ernennung verbundene Beförderung (§ 20 Abs. 1 LBG) anstrebt, hat Anspruch darauf, dass der Dienstherr das ihm bei der Entscheidung über die Bewerbung zu Gebote stehende Auswahlermessen – unter Einhaltung etwaiger Verfahrensvorschriften – fehlerfrei ausübt. Er kann insbesondere verlangen, dass die Auswahl nach Art. 33 Abs. 2 GG, § 9 BeamtStG (nur) nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung getroffen wird, wobei der Dienstherr an das gegebenenfalls von ihm entwickelte Anforderungsprofil gebunden ist, mit welchem er die Kriterien für die Auswahl der Bewerber festlegt (vgl. ...