Gesetzestext

 

(1) Diese Verordnung ist in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften

a) das zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats um Beweisaufnahme ersucht, oder
b) darum ersucht, in einem anderen Mitgliedstaat unmittelbar Beweis erheben zu dürfen.

(2) Um Beweisaufnahme darf nicht ersucht werden, wenn die Beweise nicht zur Verwendung in einem bereits eingeleiteten oder zu eröffnenden gerichtlichen Verfahren bestimmt sind.

(3) Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck ›Mitgliedstaat‹ die Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks.

A. Allgemeines.

 

Rn 1a

Die EuBVO kennt zwei Möglichkeiten einer Beweisaufnahme bei im Ausland belegenen Beweismitteln: Die Beweiserhebung durch ein Gericht des ersuchten Mitgliedsstaats (Artt 7 ff., aktive Rechtshilfe) und die unmittelbare Beweisaufnahme (Art 17, passive Rechtshilfe). Letztere setzt bei der Vernehmung von Personen (s zum Begriff Art 17 Rn 2) voraus, dass diese freiwillig an ihrer Vernehmung mitwirken (Art 17 II). Ist dies der Fall, erfordern der Unmittelbarkeitsgrundsatz und die dem Gericht obliegende Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts idR eine unmittelbare Beweisaufnahme, insb mittels Videokonferenztechnik (BPatG GRUR 03, 176, s dazu Art 17 Rn 2).

 

Rn 1b

Die EuBVO wird mit Wirkung zum 1.7.22 neu gefasst (VO (EU) 2020/1783, ABl L 405 v. 2.12.20 S 1). Die sich daraus ergebenden Änderungen finden sich jeweils im Sachzusammenhang der Kommentierung.

B. Sachlicher Anwendungsbereich.

I. Begriff der Zivil- oder Handelssache.

 

Rn 1c

Er entspricht demjenigen des Art 1 I Brüssel Ia-VO (s dort Rn 10). Der Ausnahmekatalog des Art 1 II Brüssel-Ia-VO greift hier aber nicht, sodass die EuBVO bspw auch in Familiensachen, Erbsachen und Insolvenzsachen anwendbar ist. Soweit in derartigen Verfahren der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, hat das Gericht die EuBVO auch vAw zu nutzen (BVerfG NJW 16, 626 [BVerfG 14.09.2015 - 1 BvR 1321/13]).

II. Gericht eines Mitgliedstaats.

 

Rn 2

Der Begriff des Gerichts wird vom EuGH anhand folgender Kriterien bestimmt: ›Gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit‹ (EuGHE 2006, I-3561, Rz 12). Demnach ist eine Verwaltungsbehörde mangels Unabhängigkeit kein Gericht iSd vorliegenden Vorschriften; zu den Verwaltungsbehörden gehören auch Organe der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Gebauer/Wiedmann/Huber, Art 1 EuBVO Rz 29). Auch ein Schiedsgericht ist kein Gericht idS, da es weder eine staatliche Einrichtung ist (›eines Mitgliedstaats‹) noch obligatorische Gerichtsbarkeit ausübt (Zö/Geimer, Rz 9; aA Geimer/Schütze/Knöfel Rz 30). Ein Schiedsgericht kann daher nicht selbst auf die EuBVO zurückgreifen, sondern allenfalls ein staatliches Gericht um Unterstützung bei der Beweisaufnahme bitten, etwa gem § 1050 (s § 1050 Rn 2). In der Neufassung zum 1.7.22 wird der Begriff des ›Gerichts‹ in Art 2 Nr 1 EuBVO nF definiert.

III. Beweisaufnahme und Beweismittel.

 

Rn 3

Der Begriff der Beweisaufnahme ist weit auszulegen und umfasst ›möglichst viele Maßnahmen der justiziellen Informationsbeschaffung‹ (GA Kokott, Schlussantrag EuGHE 2007, I-7929, Rz 43), zB auch die Entnahme von Blutproben in Familiensachen (Knöfel EuZW 08, 267, 268 mwN). Insb fällt in den Anwendungsbereich der EuBVO auch die Anhörung von Parteien oder Beteiligten, zB gem §§ 141 ZPO, 128 II oder 159 FamFG (Geimer/Schütze/Knöfel Rz 38), nicht aber die Wortmeldung einer lediglich gem § 128a I teilnehmenden Partei (zur Zulässigkeit s Windau NJW 20, 2753 Rz 10). Aufgrund des weiten Begriffs der Beweisaufnahme sind auch Beweissicherungsmaßnahmen, wie zB ein selbständiges Beweisverfahren umfasst (MüKoZPO/Rauscher Rz 7; Heinze IPRax 08, 480).

IV. Beweismittelbeschaffung aus dem Ausland.

 

Rn 4

Die EuBVO regelt nur das ›wie‹ einer Beweisaufnahme im Ausland, aber nicht, ›ob‹ eine solche überhaupt vorliegt. Letzteres ist nach lex fori zu entscheiden (Rauscher/v Hein Rz 18 f, der aber für Art 17 eine autonome Auslegung fordert). Einem nach nationalem Recht zulässigen ›Beweismittelimport‹ ohne Beachtung des Verfahrens der EuBVO steht diese daher nicht im Wege, soweit die EuBVO nicht bestimmte Formen des Beweismittelimports regelt.

 

Rn 4a

Das Gericht darf deshalb den Parteien aufgeben, Augenscheinsobjekte oder Urkunden vorzulegen, die sich im Ausland befinden (Gebauer/Wiedmann/Huber Art 1 EuBVO Rz 43 ff).

 

Rn 4b

Einen Zeugen darf das Gericht bitten, zur Vernehmung vor dem Prozessgericht im Forumsstaat zu erscheinen (s nur Wieczorek/Schütze/Ahrens § 363 Rz 42; Dötsch MDR 11, 269) und muss dies aufgrund des Unmittelbarkeitsgrundsatzes sogar im Regelfall, wenn der Zeuge dazu bereit ist (St/J/Chr. Berger, § 363 Rz 5, anders § 363 Rn 23). Jedenfalls im EU-Ausland darf das Gericht den Zeugen auch um eine freiwillige schriftliche Zeugenaussage ersuchen (ebenso – noch zum HBÜ Frankf NJW-RR 96, 575 [OLG Frankfurt am Main 13.07.1995 - 16 U 3/95]; Rauscher/v Hein Rz 21, Nagel/Gottwald § 9 Rz 139; Schack IZVR Rz 803; Lafontaine DAR 20, 541; aA § 363 Rn 23; Celle Urt v 20.2.20 – 11 U 169/19; und noch das obiter dictum in BGH NJW 84,...

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