Rn 1
Die Verordnung, auch ›Brüssel IIa-Verordnung‹ genannt, ist die Nachfolgeverordnung zur sog ›Brüssel II-Verordnung‹ (VO [EG] Nr 1347/2000). Sie hat einheitliche Regeln betreffend die internationale Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Angelegenheiten der sog elterlichen Verantwortung (s dazu Art 2 Nr 7) für die gesamte Europäische Union unter Ausnahme Dänemarks (s Art 2 Nr 3) geschaffen.
Eine Revision der Brüssel IIa-VO ist auf den Weg gebracht worden (VO [EU] Nr 2019/1111 des Rates v 25.6.19, ABl L 178/49; sog Brüssel IIb-VO). Sie ist seit dem 22.7.19 in Kraft (Art 105 II Brüssel IIb-VO). Die VO ist allerdings nur auf am oder nach dem 1.8.22 eingeleitete gerichtliche Verfahren, förmlich errichtete oder eingetragene öffentliche Urkunden und eingetragene Vereinbarungen anzuwenden (Art 100 Brüssel IIb-VO; Überblick bei Erb-Klünemann/Niethammer-Jürgens FamRB 19, 454; Finger FuR 19, 640; Schulz FamRZ 20, 1141; Gruber/Möller IPRax 20, 393). Die neue Brüssel IIb-VO nebst den jeweiligen Erwägungsgründen findet sich im Anhang. Einzelne wichtige Vorschriften werden parallel kommentiert. Die Brüssel IIb-VO bezweckt eine Stärkung der Rechtssicherheit, Erhöhung der Flexibilität, die Verbesserung des Zugangs zu Gerichtsverfahren und die Gewährleistung effizienterer Verfahren (Erw 2). Neben der Beschleunigung und weiteren Präzisierung des Kindesrückgabeverfahrens bei einer internationalen Kindesentführung einschließlich der Möglichkeit alternativer Streitbeilegungsverfahren (Art 22–29) werden die Rechte des Kindes gestärkt (Art 21, Recht auf eigene Meinungsäußerung). Weiterhin ist eine zügige Vollstreckung durch Abschaffung des Exequaturverfahrens vorgesehen (Art 34 ff).
Die Art 3–20 der geltenden Verordnung befassen sich mit der internationalen Zuständigkeit. Dabei enthalten die Art 3–7 die Zuständigkeitsvorschriften in Ehesachen und die Art 8–15 diejenigen in Angelegenheiten betreffend die elterliche Verantwortung. Die Art 16–20 enthalten die beiden Verfahrensgegenständen gemeinsamen Bestimmungen. Das Vorliegen der internationalen Zuständigkeit ist in jeder Lage des Verfahrens vAw zu prüfen (BGH FamRZ 20, 1171; FamRZ 19, 1543; FamRZ 15, 479); § 65 IV FamFG greift insoweit nicht (BGH FamRZ 20, 918; Hamm FamRZ 12, 143).
Die Art 21–52 betreffen die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Angelegenheiten der sog elterlichen Verantwortung.
In den Art 53–58 finden sich Vorschriften zur Zusammenarbeit der Zentralen Behörden in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung. Die Art 59–63 regeln das Verhältnis der Verordnung zu anderen internationalen Rechtsinstrumenten. Art 64 enthält die Übergangsvorschrift. In den Art 65 ff finden sich die Schlussbestimmungen, ua zum Inkrafttreten (Art 72). Ausführungsgesetz ua zur Brüssel IIa-Verordnung ist in Deutschland das IntFamRVG (dazu Schulz FamRZ 11, 1273).
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Nachfolgendes Prüfungsschema bietet bei Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug die Gewähr dafür, nichts zu übersehen:
- Hat der Sachverhalt einen grenzüberschreitenden Bezug?
Internationale Zuständigkeit? – zwischen den EU-Mitgliedstaaten gelten vorrangig die EG(EU)-Verordnungen (hier: Brüssel IIa-Verordnung)
- gegenüber Nicht-EU Staaten werden bestimmte völkerrechtliche Abkommen maßgebend (bi- oder multilaterale Konventionen [Anm: solche Abkommen werden nur in Fällen hinsichtlich der elterlichen Verantwortung relevant]),
- das (nachrangige) nationale Recht (§§ 97–106 FamFG),
- Sonderprüfungspunkt stets: Ist eine ausländische Rechtshängigkeit zu beachten?
Anwendbares Recht? Gibt es kollisionsrechtliche Bestimmungen in völkerrechtlichen Abkommen (deutsch-iranisches Niederlassungsabkommen v 17.2.29; Haager Kinderschutzübereinkommen v 19.10.96 [KSÜ]),
- EG(EU)-Verordnungen (beachte hier insb die Rom III-Verordnung),
- dem (nachrangigen) nationalen Recht (bspw Art 21 EGBGB)?
- Achtung: Rück- oder Weiterverweisungen sind bei Scheidungen nach Art 11 Rom III-Verordnung nicht mehr zu beachten!
Anzuerkennende ausländische Entscheidung? Gibt es eine ausländische Entscheidung, die in Deutschland anerkannt werden muss aufgrund
- einer EG (EU)-Verordnung eines völkerrechtlichen Abkommens,
- eines völkerrechtlichen Abkommens,
- des (nachrangigen) nationalen Rechts (§§ 107–109 FamFG)?
- Erst jetzt (!): Konkrete Anwendung der Vorschriften des einschlägigen Sachrechts.
Wichtig ist, dass dieses Prüfungsschema für jeden Teilbereich des Familienrechts gesondert zu durchlaufen ist. Es gibt nur sehr begrenzt Verbundzuständigkeiten (vornehmlich der Versorgungsausgleich). Ist eine solche nicht gegeben, muss daher bzgl jedes Verfahrensgegenstandes (etwa: Scheidung, elterliche Sorge, Unterhalt, Güterrecht) einzeln geprüft werden, ob und ggf welche internationalen – hilfsweise nationalen – Rechtsquellen einschlägig sind. Man erkennt unschwer, dass aufgrund der unmittelbaren und vorrangigen Geltung der Verordnung das nationale Recht nur zum Zuge kommen kann, wenn entweder der Anwendungsbereich...