Rn 2

Obgleich mühsam zu lesen, ist die Vorschrift weitgehend selbsterklärend. Stets setzt sie allerdings – s zu den übrigen Voraussetzungen den Normtext – Folgendes voraus:

  • Die gerichtliche Feststellung einer besonderen Bindung des Kindes an den anderen Mitgliedstaat aufgrund eines besonderen Näheverhältnisses (EuGH NJW 18, 3455; Anm Dimmler FamRB 19, 55) unter Berücksichtigung der in Abs 3 abschließend aufgeführten Umstände (EuGH FamRZ 16, 2071 sowie EuGH IPRax 20, 556 m Anm Heiderhoff, 521; Anm Dimmler FamRB 19, 434),

    • dass die Verweisung dem Kindeswohl entspricht (Abs 1 und 5),
    • dass nicht beide Parteien der Verweisung widersprechen (Abs 2),
    • dass das zunächst nach Art 8–14 zuständige Gericht zu der Überzeugung kommt, dass das Gericht im anderen Staat den Fall oder einen bestimmten Teil davon besser beurteilen kann (Abs 1) und
    • dass das Gericht im anderen Staat diese Einschätzung teilt (Abs 5).

Das an sich zuständige Gericht hat bei seiner Abwägung, ob das andere Gericht den Fall besser beurteilen kann, zu berücksichtigen, ob dem Kind eine internationale Verweisung insbesondere unter Berücksichtigung der nationalen Verfahrensvorschriften des anderen Mitgliedstaats tatsächlich einen realen und konkreten Mehrwert erbringt (EuGH FamRZ 16, 2071; Anm Dimmler FamRB 17, 14; EuGH v 10.7.19 – C-530/18; Anm Dimmler FamRB 19, 454). Auch wenn zwei Kriterien des Katalogs erfüllt sind (bspw Geburt des Kindes, Staatsangehörigkeit eines Elternteils), erfordern derartige Umstände keine zwingende internationale Verweisung (EuGH v 10.7.19 – C-530/18). Bei der Berücksichtigung des Kindeswohls sind mögliche negative Auswirkungen auf die emotionalen, familiären und sozialen Beziehungen des betroffenen Kindes mit einzubeziehen (EuGH FamRZ 16, 2071). Unter Umständen sollte der zuständige Richter vermehrt von der – in Art 15 VI erstmals ausdrücklich erwähnten, schon zuvor aber von der richterlichen Unabhängigkeit gedeckten und insb von engagierten HKÜ-Richtern genutzten – Möglichkeit Gebrauch machen, mit dem zuständigen Richter im anderen Mitgliedstaat unmittelbar Kontakt aufzunehmen. Der EuGH (FamRZ 09, 843 aE) hat bestätigt, dass die unmittelbare Kontaktaufnahme zwischen Gerichten nicht auf die Fälle des Art 15 beschränkt ist, sondern iVm Art 53, 55 lit b einem der Verordnung zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsgedanken entspringt. Dies kann durchaus auch – falls keine Sprachbarriere besteht und ggf nach vorheriger Ankündigung und Legitimation – telefonisch geschehen. Freilich ist dann der wesentliche Inhalt des Telefonats den Parteien im Vermerkwege zu eröffnen (rechtliches Gehör; s zur direkten richterlichen Kommunikation – sehr lesenswert und mit ausf Verfahrenshinweisen – Carl/Menne NJW 09, 3537). Alternativ kann der – aber länger dauernde – Weg über die Zentralen Behörden, über das Europäische Justizielle Netz (s dazu Art 1 Rn 3 und Art 54 Rn 2) und über den Verbindungsrichter des eigenen Staats im ausländischen Staat bzw des ausländischen Staats im eigenen Staat – für Deutschland derzeit nur im Verhältnis zu Frankreich existent – gegangen werden.

Die Neufassung der Brüssel IIa-VO regelt nunmehr die Möglichkeit der direkten Kommunikation in den Art 85–89 VO (EU) Nr 2019/1111 (vgl auch Erw 3, 73–88).

 

Rn 3

Abs 2, 4 und 5 regeln das Verfahren. Nach Auffassung des EuGH ist der Begriff der ›Partei‹ im Ergebnis weit auszulegen (FamRZ 16, 2071). Selbst wenn das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaates, an dessen Gericht verwiesen werden soll, die vorherige Einleitung durch eine Behörde seines Mitgliedstaates vorsieht und deshalb auch ein anderer Sachverhalt zu beurteilen sein könnte, hindert dieses Erfordernis nicht die Antragstellung durch die ursprüngliche Partei des Ausgangsverfahrens (krit zu dieser Rspr Dimmler, FamRB 17, 14; zur Problematik aus Sicht des Jugendamtes Pirrung IPRax 17, 562, 565). Damit kann in Deutschland jeder nach § 7 FamFG formal Beteiligte einen internationalen Verweisungsantrag stellen, somit auch ein über 14 Jahre altes Kind bei einer Kindeswohlgefährdung. In § 13a IV IntFamRVG ist die sofortige Beschwerde in entsprechender Anwendung der §§ 567572 ZPO als zulässiger Rechtsbehelf vorgesehen, soweit die Entscheidung ein Übernahmeersuchen (Art 15 I lit b), eine Aussetzung (Art 15 I lit a) oder ein Abgabeersuchen (Art 15 II lit c) betrifft. Im Übrigen sind die Entscheidungen unanfechtbar (§ 13a V IntFamRVG, vgl auch Stuttg FamRZ 14, 1530). Nach § 13a IV 3 IntFamRVG werden die Beschlüsse allerdings erst mit Rechtskraft wirksam, worauf in der Entscheidung hinzuweisen ist. Erfolgt eine Verweisung, so ist eine Weiterverweisung nach Erwägungsgrund 13 S 2 ausgeschlossen (so auch Rauscher/Rauscher Art 15 Rz 35); eine innerstaatliche Verweisung bleibt davon allerdings unberührt. Auch eine Verweisung eines Verfahrens, das sich in der Beschwerde-/Berufungsinstanz befindet, an ein erstinstanzliches Gericht bleibt möglich (Dimmler FamRB 19, 55).

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