Rn 1
Diese Vorschrift steht in engem Zusammenhang mit Art 19, der die Folgen gleichzeitiger Rechtshängigkeit (Litispendenz) mehrerer Verfahren regelt. Art 19 räumt dem zeitlich früher rechtshängig gewordenen Verfahren den Vorrang ein – Prioritätsprinzip (plastisch auch Wettlauf- oder Windhundprinzip genannt; Mankowski FamRZ 15, 1865; Dimmler FamRB 16, 43) – und zwingt das zweitbefasste Gericht zur Aussetzung, bis die Zuständigkeit des erstangerufenen geklärt ist. Da die Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtshängigkeit in den Mitgliedstaaten verschieden sind, enthält Art 16 eine autonome Definition des Zeitpunktes ihres Eintritts, namentlich die Anrufung des Gerichts. Eine analoge Anwendung auf Drittstaaten ist nicht geboten (KG FamRZ 16, 836). Maßgeblich wird vielmehr die lex fori.
Die Definition dieses Begriffs in Art 16 berücksichtigt, dass es in den Mitgliedstaaten zwei verschiedene Systeme der Antragseinreichung gibt: Zum einen das etwa in Deutschland bekannte, bei dem die Antragsschrift zunächst bei Gericht eingereicht wird, welches wiederum die Zustellung an die Gegenseite veranlasst. Dem trägt Art 16 I lit a Rechnung. Es genügt die Einreichung, selbst wenn dadurch nicht sofort das Verfahren nach nationalem Recht eingeleitet wird (EuGH v 22.6.16 – C-173/16; Anm Dimmler FamRB 17, 55), Art 16 I lit b greift das in anderen Mitgliedstaaten geltende System auf, bei dem der Antragsteller die Antragsschrift zunächst direkt an den Antragsgegner zustellt und sie erst danach bei Gericht einreicht. Welche der beiden Alternativen einschlägig ist, richtet sich also nach der lex fori.
Rn 2
In beiden Fällen wird für die Annahme einer erfolgten Anrufung des Gerichts einerseits vorausgesetzt, dass diese schriftlich unternommen wurde (telefonische Befassung eines Richters reicht nicht!), andererseits, dass der Antragsteller in der Nachfolge seinen zustellungsbezüglichen Obliegenheiten nachgekommen ist (vgl zum Ganzen EuGH FamRZ 11, 617; Anm Mankowski GPR 11, 209; ergänzend auch EuGH, Beschl v 16.7.15 – C-507/14 nv). Man erkennt – aus deutscher – Sicht klare Parallelen zu § 167 ZPO, der eine ähnliche Vorwirkung anordnet. Die den Antragsteller iRd Anrufung treffenden Obliegenheiten hängen von der lex fori ab (NK-BGB/Gruber Art 16 Rz 4) und sind in Deutschland die Folgenden (ThoPu/Hüßtege Art 16 Rz 3):
- Mitteilung der richtigen Anschrift des Antragsgegners (dazu BGH NJW 17, 564) bzw eines Zustellungsbevollmächtigten (dazu KG FamRZ 05, 1685),
- Beifügung der erforderlichen Anzahl von Abschriften,
- Einzahlung des Kostenvorschusses sowie entsprechende Nachfrageverpflichtung (zur Verfahrenskostenhilfeproblematik s.u. Rn 3).
Wird der Antragsteller dem nicht gerecht, so tritt die Anrufung erst ein, sobald die Mängel behoben sind (NK-BGB/Gruber Art 16 Rz 9; zum etwaigen Verschuldensvorwurf EuGH v 16.7.15 – C-507/14 nv; EuGH v 22.6.16 – C-173/16: Obliegenheit des Antragstellers die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung an die Antragsgegnerseite zu bewirken; Anm Mankowski FamRZ 15, 1865).
Bei Verfahren, die von Amts wegen eingeleitet werden (bspw Entzug der elterlichen Sorge), sollte darauf abgestellt werden, zu welchem Zeitpunkt das Verfahren erstmals aktenkundig geworden ist (NK-BGB/Gruber Art 16 Rz 8).