Rn 1
Diese Vorschrift – die gemeinsam mit Art 16 zu lesen ist – hat erhebliche praktische Bedeutung und bietet Rechtsanwälten ein weites Feld zu taktischer Verfahrensführung (s dazu Rn 5). Sie regelt – jedoch (Wortlaut) nur im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander (München FamRZ 14, 862: daher nicht in einem einzigen Mitgliedstaat), nicht im Verhältnis zu Drittstaaten (abzustellen ist in solchen Konstellationen auf die lex fori, dazu und zur Anerkennungsprognose Amos/Dutta FamRZ 14, 444, 446 f; vgl auch Court of Appeal [2013] EWCA Civ. 1255 sowie OGH v 22.11.11 – 80b116/11h) – die Fälle der Litispendenz, also solche, in denen zwischen denselben Parteien je eine Ehesache (Abs 1) bzw bzgl desselben Kindes je eine Sache betreffend die elterliche Verantwortung (Abs 2) in mehreren Mitgliedstaaten rechtshängig ist.
Rn 2
Das zweitbefasste (s dazu Art 16) Gericht muss nach Abs 1 bzw Abs 2 das bei ihm anhängige Verfahren vAw aussetzen (in Deutschland: analog § 21 FamFG bzw § 113 I FamFG iVm 148 ZPO), bis das erstbefasste idR rechtskräftig (NK-BGB/Gruber Art 19 Rz 16; s hierzu auch Rn 5) über seine Zuständigkeit befunden hat (hierzu pointiert krit Rauscher/Rauscher Art 19 Rz 25). Allerdings kann es für die Klärung der Zuständigkeitsfrage bereits genügen, dass sich das zuerst angerufene Gericht nicht vAw für unzuständig erklärt und kein Beteiligter im Rahmen des ersten Verteidigungsvorbringens die internationale Unzuständigkeit rügt (EuGH FamRZ 15, 2036; Anm Dimmler FamRB 16, 43). In Ansehung dessen kann ein VKH-Antrag nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass die internationale Zuständigkeit zwar vorliegt, das Gericht nur zweitbefasst ist und das erstbefasste Gericht seine Erstbefassung bejahen wird. Denn diese Begründung greift der allein dem aus Sicht des zweitbefassten Gerichts erstbefassten Gericht zu. Hier ist – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – VKH zu bewilligen und das Verfahren auszusetzen (Stuttg FamRZ 16, 1601; Karlsr FamRZ 11, 1528; aA allerdings Zweibr FamRZ 06, 1043, 1044 aE; Heiter FamRZ 14, 861).
Lehnt das zuerst angerufene Gericht seine Zuständigkeit ab, so kann das zweite Gericht in der Sache entscheiden. Ist dieses aber von vornherein international nicht zuständig, so liegt kein Fall des Art 19 vor; denn dieser will nur den positiven Kompetenzkonflikt regeln. Das zweitbefasste Gericht muss also dann nicht etwa zuwarten, sondern kann sich nach Art 17 unmittelbar zugunsten des erstangerufenen Gerichts für unzuständig erklären und den Antrag als unzulässig abweisen.
Stellt das erstangerufene Gericht seine Zuständigkeit fest (diese Zwischenentscheidung ist selbstständig anfechtbar, Oldbg FamRZ 13, 481; Stuttg FamRZ 14, 1530), so muss das zweitbefasste sich zugunsten jenes vAw für unzuständig erklären (Abs 3 S 1) und den Antrag als unzulässig abweisen (Stuttg FamRZ 18, 1596; NK-BGB/Gruber Art 19 Rz 19). Das später angerufene Gericht darf sein Verfahren auch dann nicht fortsetzen, wenn es der Ansicht ist, das zuerst angerufene Gericht habe seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen (High Court Ireland v 27.7.10 – IEHC 303). Der Antragsgegner kann aber dann nach Abs 3 S 2 seinen Antrag dem erstbefassten Gericht vorlegen. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist allerdings unklar (Gruber FamRZ 00, 1129, 1134). Zutreffenderweise wird man davon auszugehen haben, dass die Vorlage auch bei einem als unzulässig abgewiesenen Zweitantrag möglich bleibt, da die materielle Rechtskraft nicht berührt ist. Bei sich gegenseitig ausschließenden Anträgen – Trennungs- bzw Scheidungsantrag nach italienischem Recht – macht die Vorlage dagegen keinen Sinn (NK-BGB/Gruber Art 19 Rz 25).
Hat sich dagegen das Verfahren beim zuerst angerufenen Gericht erledigt, so kann ein ordnungsgemäß eingeleitetes, noch anhängiges bzw gerade erst anhängig gewordenes Verfahren beim zweitangerufenen Gericht fortgesetzt werden; das zweitangerufene Gericht wird damit im Zeitpunkt der Erledigung zum zuerst angerufenen Gericht (EuGH FamRZ 15, 2036: chronologische Reihenfolge; Anm Dimmler FamRB 16, 43).
Rn 3
Abs 1 erfasst Ehesachen iSd Art 1 I lit a. Die Parteien müssen identisch sein (EuGH FamRZ 15, 2036), nicht aber der Gegenstand des Verfahrens (weiter Verfahrensgegenstandsbegriff, EuGH FamRZ 15, 2036 [Trennung einerseits, Scheidung andererseits]; Zweibr FamRZ 06, 1043). Dies hat insb zur Folge, dass ein Ehegatte durch Einreichung eines Trennungsantrags den erwarteten Scheidungsantrag der Gegenseite blockieren kann (›Torpedoantrag‹; Zweibr FamRZ 06, 1043; NK-BGB/Gruber Art 19 Rz 8; s dazu auch Rn 5). Sofern die Verordnung auch Feststellungsverfahren auf Bestehen oder Nichtbestehen einer Ehe erfasst (s dazu Art 1 Rn 7), führt dies zur Rechtshängigsperre (NK-BGB/Gruber Art 19 Rz 10). Die Einleitung eines der Ehescheidung vorgeschalteten Versöhnungsverfahrens führt richtiger Ansicht zufolge dann zur Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags, wenn es nach dem anzuwendenden Sachrecht Bestandteil eines einheitlichen Scheidungsverfahrens i...