Gesetzestext
(1) Die Gerichte eines Mitgliedstaats können in dringenden Fällen ungeachtet der Bestimmungen dieser Verordnung die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen oder Vermögensgegenstände auch dann anordnen, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache gemäß dieser Verordnung ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.
(2) Die zur Durchführung des Absatzes 1 ergriffenen Maßnahmen treten außer Kraft, wenn das Gericht des Mitgliedstaats, das gemäß dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, die Maßnahmen getroffen hat, die es für angemessen hält.
Rn 1
In dringenden Fällen bietet Art 20 die Rechtsgrundlage für vorläufige Schutzmaßnahmen betreffend Personen und Vermögensgegenstände, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, dessen Gericht bzw Behörde deswegen angerufen wird, für die diese(s) aber international nicht zuständig ist. Häufig wird das daran liegen, dass die Hauptsachezuständigkeit einen gewöhnlichen Aufenthalt voraussetzen würde, der nicht oder noch nicht begründet wurde. Dies ist nicht widersprüchlich, weil Befinden iSd Art 20 I den schlichten Aufenthalt meint (unklar und zumindest missverständlich daher der Hinweis auf Art 8 I in NK-BGB/Gruber Art 20 Rz 9). Diese Vorschrift begründet keine eigenständige Zuständigkeit; vielmehr enthält sie eine Öffnungsklausel und damit die Möglichkeit eines Rückgriffs auf gegenüber der Verordnung nachrangige Übereinkommen bzw das nationale Recht (BGH FamRZ 11, 542). Die Schutzmaßnahmen wirken nur einstweilen für die Zeit bis zu einer – ggf ebenfalls vorläufigen – Entscheidung des international für die Hauptsache zuständigen Gerichts. Aufgrund des der Verordnung zugrunde liegenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens darf von der Eilzuständigkeit restriktiv Gebrauch gemacht werden; die Anwendung von Art 20 setzt also eine besondere Dringlichkeit voraus, was bedeutet, dass die Versagung einer Eilentscheidung eine Verweigerung effektiven Rechtsschutzes darstellen müsste (OGH Wien v 31.1.12 – 1 Ob 254/11a). Kann das angerufene Gericht im Wege eines unmittelbaren Kontakts das international zuständige Gericht sofort erreichen und erklärt dieses, es werde die Sache unverzüglich regeln, so sollte das angerufene Gericht es diesem überlassen, die erforderlichen Maßnahmen vAw zu ergreifen oder den Antragsteller an dieses Gericht verweisen.
Der EuGH (EuGH FamRZ 09, 843; Anm Völker FamRBint 09, 53; s.a. Pirrung IPRax 11, 50) hat ausgeführt: Eine von einem nationalen Gericht angeordnete Schutzmaßnahme – wie etwa die Inobhutnahme eines Kindes – auf der Grundlage von Art 20 setzt voraus, dass diese Maßnahme dringend und vorübergehender Natur sein und in Bezug auf Personen getroffen werden muss, die sich in diesem Mitgliedstaat befinden. Ein einstweiliger Sorgerechtsentzug zu Lasten des zurückgelassenen Elternteils ist aufgrund Art 20 nicht möglich, wenn sich dieser nicht im Hoheitsgebiet des Zufluchtsstaats aufhält (EuGH FamRZ 10, 525 [Deticek] Rz 50 ff = ECLI:EU:C:2009:810). Die von einer Maßnahme betroffene Person muss sich deshalb im Gebiet des Zufluchtsstaats aufhalten (so auch BGH FamRZ 16, 799; Anm Dimmler FamRB 16, 185).
Die Brüssel IIb-VO verlangt dagegen nur noch den Aufenthalt des betroffenen Kindes oder belegenes Kindesvermögens in diesem Mitgliedstaat (Art 15 I).
Die in Art 20 den Gerichten eines Mitgliedstaats eingeräumte Befugnis, die nach ihrem Recht vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen in Bezug auf in diesem Staat anwesende Personen auch dann anzuordnen, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist, darf indes nicht dahin verstanden werden, dass durch einstweilige Anordnung einem Elternteil die elterliche Sorge für ein Kind übertragen werden kann, wenn das für die Hauptsache zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats die elterliche Sorge bereits vorläufig dem anderen Elternteil übertragen hat und diese Entscheidung in dem ersuchten Mitgliedstaat für vollstreckbar erklärt worden ist (EuGH FamRZ 10, 525 m Anm Henrich; Anm. Völker FamRBint 10, 27; s.a. Martiny FPR 10, 493; Janzen/Gärtner IPRax 11, 158).
Die Durchführung der betreffenden vorläufigen Eilmaßnahme und deren Bindungswirkung bestimmen sich nach nationalem Recht (für Deutschland also nach §§ 15 IntFamRVG, 49 ff FamFG, s.u. Rn 2). Nach der Durchführung der Schutzmaßnahme ist das nationale Gericht zwar nicht – auch nicht aufgrund von Art 15 I lit b – verpflichtet, die Rechtssache an das zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu verweisen. Indessen muss das nationale Gericht, das einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen durchgeführt hat, direkt oder durch Einschaltung der aufgrund von Art 53 bestimmten Zentralen Behörde das zuständige Gericht des anderen Mitgliedstaats von der Maßnahme in Kenntnis setzen, wenn der Schutz des Kindeswohls dies erfordert.
Rn 2
In Sachen betreffen...