Rn 5

Abs 1 lit a hat sechs Spiegelstriche, die gleichberechtigt – und damit nicht vorrangig – neben dem Zuständigkeitsgrund des Abs 1 lit b stehen. Im Rahmen von Abs 1 lit a kommt es für den 1. – 5. Spiegelstrich nicht auf die Staatsangehörigkeit der beteiligten Eheleute oder ihr domicile (s dazu Rn 12) an.

 

Rn 6

Den in allen Spiegelstrichen in Bezug genommenen gewöhnlichen Aufenthalt definiert die Verordnung nicht. Aufgrund der gebotenen autonomen Auslegung der Verordnung ist dies – ausgehend von der Rspr des EuGH in anderen Bereichen des EU-Rechts – der Ort, den der jeweilige Beteiligte als ständigen oder gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in der Absicht gewählt hat, ihm Dauerhaftigkeit zu verleihen (vgl etwa EuGH v 15.9.94 – C-452/93 P, Rz 22; EuGH NJW 08, 3201, Rz 46). Dies steht mit der Wertung des Art 9 I, der davon ausgeht, dass schon in weniger als drei Monaten nach einem Umzug in einen anderen Mitgliedstaat dort ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt begründet werden kann, sowie mit der – richtig verstandenen – Rspr des BGH (BGH NJW 93, 2047, 2048f) in Einklang. Dem zufolge ist der gewöhnliche Aufenthalt einer Person der Ort, an dem der Schwerpunkt ihrer Bindungen in familiärer oder beruflicher Hinsicht, ihr Daseinsmittelpunkt liegt. An die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts dürfen keine zu geringen Anforderungen gestellt werden. Der Wille, den Aufenthaltsort zum Mittelpunkt oder Schwerpunkt der Lebensverhältnisse zu machen, ist – anders als beim Wohnsitz – nicht erforderlich. Im Unterschied wiederum zum einfachen oder schlichten Aufenthalt ist grds ein Aufenthalt von einer Dauer zu verlangen, der nicht nur gering oder vorübergehend sein darf. Allerdings bedeutet das nicht, dass im Falle eines Wechsels des Aufenthaltsorts ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt immer erst nach Ablauf einer entsprechenden Zeitspanne begründet werden könnte oder bis dahin der frühere gewöhnliche Aufenthalt fortbestünde. Der gewöhnliche Aufenthalt an einem Ort wird vielmehr grds schon dann begründet, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass der Aufenthalt an diesem Ort auf längere Zeit angelegt ist und der neue Aufenthaltsort künftig anstelle des bisherigen der Daseinsmittelpunkt sein soll. Bei einem vorübergehenden Auslandsstudium wird ein Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts zu verneinen sein (Frankf FamRZ 09, 796; Köln FamRZ 18, 991 [polnische Pflegekraft]). Bei Asylbewerbern kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an (Frankf FamRZ 19, 1532; Kobl FamRZ 16, 995). Bei Flüchtlingen mit ungeklärtem Status ist von einem vorübergehenden Aufenthalt auszugehen.

Hieran haben die Entscheidungen des EuGH (FamRZ 18, 1426, FamRZ 11, 617; Anm Mankowski GPR 11, 209; FamRZ 09, 843) nichts geändert. Darin wird jeweils lediglich der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes definiert (s dazu Art 8 Rn 2). Dieser ist mit dem gewöhnlichen Aufenthalt eines Ehegatten jedenfalls nicht völlig deckungsgleich (so auch Helms FamRZ 11, 1765, 1769).

Die Frage ob ein mehrfacher gewöhnlicher Aufenthalt denkbar ist (Schlagwort ›Mallorca-Rentner‹, die sich jeweils ein halbes Jahr in einem Mitgliedstaat aufhalten, oder auch Berufspendler, die sich täglich in zwei Staaten aufhalten), wird nicht einheitlich beantwortet (vgl bspw einerseits Staudinger/Spellenberg Art 3 Rz 59 f, andererseits NK-BGB/Gruber Art 3 Rz 11 Fußn 124; Staudinger/Mankowski, Art 3 HUP Rz 66; High Court Ireland v 27.7.09 – [2009] IEHC 579 – S./S.; zur Problematik vgl auch Schulze IPRax 12, 526: ggf Analogie zu Art 5 I 1 EGBGB). Im Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO sollte allerdings angesichts des Erwägungsgrunds 1 ein mehrfacher gewöhnlicher Aufenthalt zugelassen werden, um die Frage der internationalen Zuständigkeit nicht weiter zu verkomplizieren. Zuständig ist dann das zuerst angerufene Gericht des jeweiligen Mitgliedstaates. Der EuGH (C-289/20) ist nunmehr mit dieser Frage auf Vorlage des Cour d’appel de Paris befasst worden.

Allgemein anerkannt ist hingegen das Nichtvorhandensein eines gewöhnlichen Aufenthalts eines Ehegatten (BGH FamRZ 93, 798; Hausmann Art 3 Rz A 64).

 

Rn 7

Der 1. Spiegelstrich erfordert, dass beide Eheleute derzeit ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat haben, dessen Gericht angerufen wurde.

 

Rn 8

Der 2. Spiegelstrich lässt es genügen, dass die Ehegatten einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Gerichtsstaat hatten, wenn einer von ihnen in diesem Staat verblieben ist. Der Wortlaut (›noch‹) zeigt, dass die Berufung auf diesen Spiegelstrich ausscheidet, wenn dieser Ehegatte zwischenzeitlich in einen anderen Staat verzogen und sodann wieder in jenen Staat zurückgekehrt ist.

 

Rn 9

Im Rahmen des 3. Spiegelstrichs – gewöhnlicher Aufenthalt des Antragsgegners – kann der Antragsteller die Ehesache sofort mit Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts durch den Antragsgegner im neuen Staat anhängig machen. Dies kann im Einzelfall – bei einem entsprechenden klaren Niederlassungswillen des Antragsgegners – schon unmittelbar nach dem Zuzug der Fall se...

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