Rn 2
Den Begriff des gewöhnlichen – in Abgrenzung des vorübergehenden oder gelegentlichen – Aufenthalts eines Kindes – (zum hiervon abw zu definierenden gewöhnlichen Aufenthalt eines Beteiligten) Art 3 Rn 6 – hat der EuGH (FamRZ 18, 1426; FamRZ 17, 1506 [zu Art 11], FamRZ 17, 734, FamRZ 11, 617, FamRZ 09, 843; Anm Mankowski GPR 11, 209; Pirrung IPRax 11, 50) im Wege (stets gebotener, s dazu etwa Art 1 Rn 4) verordnungsautonomer Auslegung geklärt. Das nationale Gericht hat dabei auf der Grundlage eines Bündels übereinstimmender Sachverhaltsgesichtspunkte im jeweiligen Einzelfall den gewöhnlichen Aufenthalt zu bestimmen (EuGH FamRZ 18, 1426; Anm. Dimmler FamRB 18, 476). Grundlegende Voraussetzung ist die körperliche Anwesenheit des Kindes (EuGH NJW 19, 415 [Kriterium räumlicher Nähe]; Anm. Dimmler FamRB 18, 474). Deshalb kann ein gewöhnlicher Aufenthalt eines Kindes, das in einem Drittstaat unter seitens des Vaters gegenüber der Mutter ausgeübtem Zwang geboren worden ist und sich seither dort mit der Mutter aufhält, nicht im vormaligen Staat der sich dort gewöhnlich aufhaltenden Eltern begründet werden (EuGH NJW 19, 415 krit Dimmler FamRB 18, 474). Auch die elterliche Intention eines zukünftig beabsichtigten Aufenthalts ist unerheblich (EuGH FamRZ 17, 1506; Anm Dimmler FamRB 17, 373). Daneben muss der Aufenthalt des Kindes Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes sein (EuGH FamRZ 18, 1426). Hierfür sind insb die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. In Ansehung dessen kann die Absicht der Eltern, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung im Zuzugsstaat manifestiert, ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts sein. Ein anderes Indiz kann die Einreichung eines Antrags auf Zuweisung einer Sozialwohnung bei den zuständigen Behörden sein. Dass sich ein Kind in einem Mitgliedstaat aufhält, in dem es während eines kurzen Zeitraums ein Wanderleben führt, kann dagegen ein Indiz dafür sein, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt dieses Kindes nicht in diesem Staat befindet (EuGH FamRZ 09, 843 = ECLI:EU:C:2009:225). Je jünger das Kind ist, desto mehr Gewicht bekommt das familiäre Umfeld des Kindes. So ist bei einem Säugling vorrangig auf den Willen und die Integration des es betreuenden Elternteils in sein eigenes soziales und familiäres Umfeld abzustellen (EuGH FamRZ 11, 617). Den kulturellen und familiären Bindungen des Kindes zu einem bestimmten Staat sowie dessen Staatsangehörigkeit kann – in Konkretisierung und zugleich Abgrenzung der Rspr in der Rs Mercredi (EuGH FamRZ 11, 617) – gegenüber objektiven geografischen Gegebenheiten nicht der Vorrang eingeräumt werden (EuGH FamRZ 18, 1426). Auch der einseitige Wunsch des de facto sorgeberechtigten Elternteils, mit dem Kind in ein anderes Land überzusiedeln, genügt nicht (EuGH FamRZ 18, 1426). Des Weiteren hat der EuGH im Rahmen einer internationalen Kindesentführung einen weiteren Gesichtspunkt hervorgehoben (FamRZ 15, 107; Anm Dimmler FamRB 15, 129; Pirrung IPRax 15, 207). Danach kann ein gewöhnlicher Aufenthalt uU nicht begründet werden, sofern der Umzug eines Elternteils mit dem Kind auf Grund einer vorläufigen Sorgerechtsentscheidung erfolgte und das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats im Nachherein eine gegenteilige Entscheidung getroffen hat. Auch in Sorgerechtsstreitigkeiten kann diese Entscheidung nach einem berechtigtem Grenzwechsel, bspw aufgrund einer erstinstanzlichen Entscheidung, nicht unbeachtet bleiben; ist allerdings einzelfallorientiert zu entscheiden. Ein gewöhnlicher Aufenthalt hängt allerdings ohnehin nicht zwingend von dessen Rechtmäßigkeit ab. Um einen Gleichlauf mit der Jahresfrist des Art 10 zu ermöglichen, sollte ein gewöhnlicher Aufenthalt nicht vor Ablauf von 12 Monaten begründet werden können (vgl auch Rauscher/Rauscher Art 10 Rz 17; ebenso Stuttg v 15.10.20 – 15 UF 8/20). In Deutschland geht die Rspr überwiegend von einer sechsmonatigen Frist zur Begründung eines (neuen) gewöhnlichen Aufenthalts aus (Karls FamRZ 18, 920; dagegen Stutt NJW 12, 2043, wonach im Einzelfall auch eine kürzere Zeitspanne genügen kann). Erweist sich die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ausnahmsweise als unmöglich, so sind – vorbehaltlich der Anwendbarkeit von Art 12 (Vereinbarung über die Zuständigkeit) – nach Art 13 Abs 1 die Gerichte des Mitgliedstaats international zuständig, in dem sich das Kind befindet.
Nach der Rspr des BGH (FamRZ 11, 542) ist ein gewöhnlicher Aufenthalt auch nach kürzerer Verweildauer möglich, sofern der Aufenthalt im neuen Staat von vornherein ...