Gesetzestext
(1) Diese Verordnung ist in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, in denen ein gerichtliches oder außergerichtliches Schriftstück von einem in einen anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Zustellung zu übermitteln ist. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen, verwaltungsrechtliche Angelegenheiten sowie die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (›acta iure imperii‹).
(2) Diese Verordnung findet keine Anwendung, wenn die Anschrift des Empfängers des Schriftstücks unbekannt ist.
(3) Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Begriff ›Mitgliedstaat‹ alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks.
A. Sachlicher Anwendungsbereich.
I. Begriff der Zivil- oder Handelssache.
Rn 1
Er entspricht demjenigen des Art 1 I Brüssel-Ia-VO. Der Ausnahmekatalog des Art 1 II Brüssel-Ia-VO greift hier aber nicht, sodass die VO insb auch in Insolvenz-, Familien- und Erbsachen gilt. Gegenüber der Brüssel-Ia-VO wurde zusätzlich klargestellt, dass auch Staatshaftungssachen bzgl acta iure imperii vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen sind. Der Begriff entstammt der völkerrechtlichen Diskussion um Staatenimmunität und bezeichnet ein staatliches Handeln hoheitlich-obrigkeitlicher Natur, ohne dass es auf das Ziel oder den Zweck des Handelns ankäme (BVerfGE 16, 27, 61 [BVerfG 30.04.1963 - 2 BvM 1/62]). Den Gegensatz dazu bildet bloß geschäftliches Handeln des Staates (acta iure gestionis) ohne Ausübung hoheitlicher Befugnisse, zB Reparatur der Heizung eines Botschaftsgebäudes (BVerfG aaO). Auch die Ausgabe von Staatsanleihen ist kein hoheitliches Handeln (Herdegen § 37 Rz 6); zu Streitigkeiten wegen Griechenland-Anleihen hat der EuGH entschieden, dass eine Zustellung gem EuZVO zu erfolgen hat, da jedenfalls nicht von vorneherein offenkundig sei, dass es hier nur um acta iure imperii gehe (EuGH EuZW 15, 633).
II. Schriftstück.
Rn 2
Gerichtliche Schriftstücke dienen der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens oder der Durchführung desselben einschließlich der Zwangsvollstreckung. Dazu gehören neben Klage- und Antragsschriften zB auch Klageerweiterungen und Streitverkündungen.
Rn 2a
Außergerichtliche Schriftstücke sind solche, die sich nicht auf ein Gerichtsverfahren beziehen, aber dennoch zugestellt werden sollen. S dazu unten bei Art 16.
III. Übermittlung von einem Mitgliedstaat in einen anderen.
Rn 3
Die EuZVO ist nicht anwendbar, wenn im Inland zugestellt wird (etwa an einen bereits benannten inländischen Prozessbevollmächtigten der ausländischen Partei, s Erw 8 und EuGH 27.2.20 – C-25/19). Sie regelt auch nicht abschließend die Frage, wann eine Zustellung im Inland zulässig ist. In Deutschland ist zB die Zustellung an eine nach dem Recht eines anderen EG-Mitgliedstaates gegründete Gesellschaft mit Sitz im Inland nach den nationalen Vorschriften möglich; ebenso die Zustellung gem § 177 (Strasser ZIP 08, 2111 ff; ebenso zur Zustellung auf einem Schiff im Inland LG Hamburg RdTW 13, 288).
Rn 3a
Befindet sich der Zustellungsempfänger im EU-Ausland, so verbietet die EuZVO eine fiktive Zustellung nach nationalem Verfahrensrecht, bei welcher der Zustellungsempfänger gezwungen wird, einen Bevollmächtigten im Inland zu benennen und andernfalls die Zustellung trotz Verbleib des Schriftstücks in der Gerichtsakte als bewirkt gilt (EuGH NJW 13, 443). Auch andere Formen der fiktiven Zustellung wie die in manchen Mitgliedstaaten früher praktizierte remise au parquet sind daher mit der EuZVO nicht vereinbar (Musielak/Stadler Art 1 EuZVO mwN; zur weitgehenden Abschaffung derartiger Regeln Kondring RIW 07, 330 ff).
Rn 4
Ein deutsches Gericht, das an eine Anschrift im EU-Ausland zustellen soll, muss dies gem EuZVO tun. § 184 ist unanwendbar, sodass der Partei nicht aufgegeben werden darf, einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen (BGH NJW 11, 1885 [BGH 02.02.2011 - VIII ZR 190/10]). Bei unbekannter Anschrift des Empfängers gilt die EuZVO nicht (Art 1 II), sodass nur nach § 185 zugestellt werden kann.
Rn 5
Die EuZVO ist auch dann anwendbar, wenn das betreffende Schriftstück bereits auf einem anderen Wege zugestellt wurde (EuGH 11.11.15 – C-223/14).
B. Räumlicher Anwendungsbereich.
Rn 6
Abs 3 der Vorschrift ist gegenstandslos geworden durch die Erklärung des Königreichs Dänemarks v 20.11.07 (in Ausführung des völkerrechtlichen Abkommens zwischen Dänemark und der EG v 27.4.06), wonach Dänemark die EuZVO auch in der vorliegenden Neufassung anwenden wird. Daher ist auch Dänemark als ›Mitgliedstaat‹ iSd EuZVO anzusehen. Seit dem 1.1.21 nicht mehr Mitgliedsstaat iSd EuZVO ist das Vereinigte Königreich. Insoweit gilt das HZÜ (Mankowski EuZW-Sonderausgabe 1/20, 1, 13).