Prof. Dr. Thomas Pfeiffer
Rn 10
Die Begriffe sind autonom und grds weit auszulegen. Maßgebend ist die rechtliche Qualifikation des der Klage zugrunde liegenden Rechtsverhältnisses zwischen den Parteien (EuGH Slg 04, I-1543). Das gilt auch im Falle einstweiliger Maßnahmen, für die Art 35 den Anwendungsbereich nach Art 1 nicht erweitert (EuGH Slg 92, I-2149). Deshalb fällt auch die Vollstreckung eines nach § 890 ZPO verhängten Ordnungsgelds im EU-Ausland unter die VO (EuGH C-406/09). Liegt das der Klage zugrunde liegende Rechtsverhältnis außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs der VO, ergibt sich ihre Anwendbarkeit auch nicht dadurch, dass in den Anwendungsbereich fallende Vorfragen zu entscheiden sind (EuGH Slg 94, I-117 Rz 34).
Rn 11
Staatliches Handeln oder dasjenige internationaler Organisationen (EuGH 3.9.20 – C-186/19 = ECLI: EU:C:2020:638) ist zivilrechtlich zu qualifizieren, soweit es acta iure gestionis betrifft, nicht jedoch soweit es acta iure imperii zum Gegenstand hat. Aufgrund dieser materiell-rechtlichen Konzeption ist die Art der Gerichtsbarkeit irrelevant, so dass auch zivilrechtliche Urteile von Verfassungs- oder Verwaltungsgerichten (zB franz Conseil d'Etat) nach der VO anerkannt werden müssen (Jenard-Bericht BTDrs VI/1973, 58). Ebenso führt die bloße vollstreckungsrechtliche Immunität nicht zur Immunität im Erkenntnisverfahren, wenn acta iure gestionis infrage stehen. Der EuGH legt dabei eine modifizierte Subjektstheorie zugrunde: Öffentlich-rechtlich sind Entscheidungen, die eine Behörde im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse iRe Streitigkeit mit einer Privatperson getroffen hat (EuGH Slg 76, 1541; Slg 80, 3807), auch Kriegshandlungen (EuGH Slg 07, I-1519), wohingegen Streitigkeiten zwischen Behörde und Privaten, bei deren Gegenstand es an einer Ausübung hoheitlicher Befugnisse fehlt, nicht erfasst werden. Namentlich Fiskalgeschäfte der öffentlichen Hand sind privatrechtlicher Art, auch soweit sie von internationalen Organisationen getätigt werden (EuGH 3.9.20 – C-186/19 = ECLI:EU:C:2020:638). Dasselbe gilt für privatrechtliche Streitigkeiten, die öffentlich-rechtliche Vorfragen aufwerfen (vgl EuGH 03, I-4867 u. Slg 04, I-1543: Bürgschaft für Zollforderung; Slg 09, I-10265: inzidente Prüfung der öffentlich-rechtlichen Genehmigungswirkung eines Kernkraftwerks). Gebührenforderungen hoheitlicher Stellen sind im Gegensatz zu privat-vertraglich vereinbarten Entgelten öffentlich-rechtlich zu qualifizieren; für eine solche öffentlich-rechtliche Einordnung spricht es insb, wenn die Inanspruchnahme der behördlichen Leistung ausschließlich und zwingend ausgestaltet und die Höhe der Gebühren einseitig festgelegt wird (EuGH Slg 76, 1541) oder wenn sie für die Erfüllung polizeilicher Aufgaben erhoben werden (EuGH Slg 80, 3807). Beiträge zu Kammern mit hoheitlichen Aufgaben sind öffentlich-rechtlich zu qualifizieren, soweit es sich nicht um freiwillig gegen Entgelt angebotene Zusatzleistungen handelt (EuGH C421/18). Öffentlich-rechtlich sind auch Bereicherungsansprüche des Fiskus wegen fehlerhafter Rückerstattung öffentlich-rechtlicher Zahlungen (EuGH C-102/15). Auf privatrechtlicher Grundlage werden – nach der vor allem in jüngerer Zeit recht weiten Deutung dieses Merkmals durch den EuGH –geltend gemacht: privatrechtliche Sicherheiten für die Erfüllung öffentlich-rechtlicher Pflichten (EuGH Slg 03, I-14693; 03, I-4867: Bürgschaft) oder Regressklagen der Sozialbehörden aufgrund übergegangener privatrechtlicher Ansprüche oder vergleichbar entstandener Rechtspositionen (EuGH Slg 02, I-10489), sofern nicht der Behörde dabei eine besondere hoheitliche Befugnis, etwa zur privatrechtlichen Rechtsgestaltung eingeräumt ist (EuGH Slg 02, I-10489; Slg 03, I-4867; Slg 04, I-981); Bereicherungsklagen der öffentlichen Hand, wenn eine Zuvielzahlung an einen Bürger der privatrechtlichen Rückforderung unterliegt (EuGH C-645/11); Schadensersatzklagen eines öffentlichen Unternehmens aufgrund von Wettbewerbsverletzungen (EuGH C-302/13); Rechte aus dem Arbeitsvertrag mit einer Botschaft, wenn der Arbeitnehmer nicht mit hoheitlichen Aufgaben betraut ist (EuGH C-154/11); Gestattungsverfahren nach § 14 TMG (BGH 24.9.19 – VI ZB 39/18). Klagebefugnisse privater Verbände in Verbraucherschutzsachen sind als nicht hoheitlich idS zu qualifizieren (EuGH Slg 02, I-8111); nichts anderes gilt, wenn der privatrechtliche Unterlassungsanspruch durch eine hierzu befugte Behörde eingeklagt wird (EuGH Urt v 16.7.20 – C-73/19 = ECLI:EU:C:2020:568). Insgesamt steht es der privatrechtlichen Einordnung nicht entgegen, wenn eine Behörde kraft besonders verliehener Befugnis zivilrechtliche Ansprüche wie eine private Partei vor einem Zivilgericht geltend machen muss (Mankowski GRUR-Prax 20, 383; Pfeiffer LMK 20, 433925). Richtet sich ein Haftungsanspruch wegen einer Pflichtverletzung gegen einen Amtsträger persönlich, so handelt es sich um eine Zivilsache, selbst wenn Sozialversicherungsschutz besteht (EuGH Slg 93, I-1963). Ebenso werden zivilrechtliche Ha...