Prof. Dr. Boris Schinkels
Zusammenfassung
Art. 62 Brüssel Ia-VO(1) Ist zu entscheiden, ob eine Partei im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Gerichte angerufen sind, einen Wohnsitz hat, so wendet das Gericht sein Recht an.
(2) Hat eine Partei keinen Wohnsitz in dem Mitgliedstaat, dessen Gerichte angerufen sind, so wendet das Gericht, wenn es zu entscheiden hat, ob die Partei einen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, das Recht dieses Mitgliedstaats an.
A. Normgegenstand.
Rn 1
Die Vorschrift enthält in ihren beiden Absätzen zwei Kollisionsregeln zur Bestimmung des Wohnsitzes natürlicher Personen (für juristische Personen vgl Art 63), dem als Anknüpfungsmoment iRd Verordnung eine zentrale Bedeutung bei der Bestimmung der Zuständigkeit (Art 4 ff) zukommt. Die EuGVO enthält damit keinen autonomen Wohnsitzbegriff; sie gibt nur vor, nach welchem Recht die Frage zu beantworten ist, ob ein Wohnsitz in einem oder mehreren Mitgliedstaat(en) gegeben ist. Die hierdurch nicht erfasste Frage nach einem Wohnsitz außerhalb der Union bemisst sich nach dem IPR des angerufenen Gerichts (Kropholler/v Hein Art 59 Rz 5).
B. Inländischer Wohnsitz (Abs 1).
Rn 2
Darüber, ob eine Person ihren Wohnsitz aus der Sicht des angerufenen Gerichts im Inland hat, entscheiden nach Abs 1 die prozessualen oder materiell-rechtlichen Vorschriften der lex fori unter Ausschluss des Kollisionsrechts. Maßgeblich ist das jeweils bei Klageerhebung geltende Recht des Mitgliedstaats. Es greift der Grundsatz der perpetuatio fori (HK-ZPO/Dörner Rz 5). Ein deutsches Gericht ist insoweit auf die §§ 7 ff BGB verwiesen.
C. Wohnsitz in anderem Mitgliedstaat (Abs 2).
Rn 3
Abs 2 wird insb dann maßgeblich, wenn der Beklagte nach den soeben beschriebenen Maßgaben keinen inländischen Wohnsitz hat, da es dann für die Eröffnung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts darauf ankommt, ob der Beklagte einen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat (vgl Art 5 I, 6, beachte aber Art 11 II, 17 II, 20 II). Auf die Frage, ob ein Wohnsitz in einem (bzw mehreren) anderen Mitgliedstaat(en) gegeben ist, hat das angerufene Gericht das (jeweilige) Recht dieses Staates anzuwenden. Erfasst wird insoweit ebenfalls nur das Sachrecht, also nicht das Kollisionsrecht des Mitgliedstaats (Rauscher/Staudinger Rz 2).
D. Kompetenzkonflikte.
Rn 4
Sind mehrere Wohnsitze gegeben, hat der Kl ein Wahlrecht, was ihm die Möglichkeit des forum shopping eröffnet (Kropholler/v Hein Art 59 Rz 6). Zur Lösung sog positiver Kompetenzkonflikte (mehrere Gerichte erachten sich als zuständig) stehen die Art 29 ff bereit. Umstritten ist die Behandlung eines negativen Kompetenzkonfliktes dergestalt, dass Gerichte aus verschiedenen Mitgliedstaaten einen Wohnsitz nicht in ihrem eigenen, wohl aber im jeweils anderen Staat annehmen. Teilweise wird hierfür ein Rückgriff auf den gewöhnlichen Aufenthalt vorgeschlagen (Kropholler/v Hein Art 59 Rz 9; ThoPu/Hüßtege Rz 3), teils eine Notzuständigkeit angenommen (Schack Rz 248).
E. Minderjährige.
Rn 5
Der Begründung eines eigenständigen Wohnsitzes kann die Minderjährigkeit einer Person entgegenstehen, womit die Frage eines abhängigen Wohnsitzes aufgeworfen ist. Ob Minderjährigkeit vorliegt, richtet sich nach dem durch das Kollisionsrecht der lex fori (in Deutschland Art 7 I EGBGB) berufenen Recht (Gebauer/Wiedmann Rz 260). Besteht danach Minderjährigkeit, folgt die diesbezügliche Wohnsitzprüfung wiederum unter der Maßgabe des nach Abs 1 und Abs 2 anwendbaren Rechts (MüKoZPO/Gottwald Art 59 Rz 11). Für die Frage eines inländischen Wohnsitzes (Abs 1) des Minderjährigen sind also aus der Sicht eines deutschen Gerichts die §§ 8, 11 BGB maßgeblich.