Prof. Dr. Boris Schinkels
Zusammenfassung
Art. 66 Brüssel Ia-VO(1) Diese Verordnung ist nur auf Verfahren, öffentliche Urkunden oder gerichtliche Vergleiche anzuwenden, die am 10. Januar 2015 oder danach eingeleitet, förmlich errichtet oder eingetragen bzw. gebilligt oder geschlossen worden sind.
(2) Ungeachtet des Artikels 80 gilt die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 weiterhin für Entscheidungen, die in vor dem 10. Januar 2015 eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergangen sind, für vor diesem Zeitpunkt förmlich errichtete oder eingetragene öffentliche Urkunden sowie für vor diesem Zeitpunkt gebilligte oder geschlossene gerichtliche Vergleiche, sofern sie in den Anwendungsbereich der genannten Verordnung fallen.
A. Normgegenstand.
Rn 1
Art 66 regelt den intertemporalen Anwendungsbereich der EuGVO.
B. Klageerhebung nach Inkrafttreten (Abs 1).
Rn 2
Abs 1 bestimmt, dass die Neufassung der EuGVO (VO 1215/2012) nur auf solche ›Verfahren‹ Anwendung findet, die nach dem 10.1.2015 (entspricht dem zeitlichen Geltungsbereich nach Art 81 II) ›eingeleitet‹ worden sind. Zwar hat man damit die vorherige Wendung von der ›erhobenen Klage‹ aufgegeben, doch liegt darin wohl eine Angleichung an die schon in der Ursprungsfassung der EuGVO verwendete englische Terminologie (›proceedings instituted‹). Der somit nach wie vor maßgebliche Zeitpunkt der Klageerhebung kann aufgrund der systematischen Stellung dieser Norm wohl nicht nach Art 32 I bemessen werden. Hier wird teils eine analoge Heranziehung verfochten (Kropholler/v Hein Rz 2), teils auf das Prozessrecht des angerufenen Gerichts (in Deutschland also auf §§ 253, 261 ZPO) verwiesen (so ThoPu/Hüßtege Rz 2; Rauscher/Staudinger Rz 2). Die Klage muss nach dem danach jeweils maßgeblichen Zeitpunkt erhoben sein; bei Klageerhebung mangelnde internationale Zuständigkeit kann also nicht durch Inkrafttreten der Neufassung während des Verfahrens geheilt werden (Gebauer/Wiedmann Rz 275; Rauscher/Staudinger Rz 3). Der Zeitpunkt der Klageerhebung ist auch für die Beurteilung von Gerichtsstandsvereinbarungen entscheidend (näher Rauscher/Staudinger Rz 5 ff). Bei Urkunden und Prozessvergleichen muss die Aufnahme am oder nach dem Stichtag erfolgt sein. Schlussendlich unterliegt nicht nur die Frage der internationalen Zuständigkeit, sondern auch diejenige der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten insoweit der VO 1215/2012, als diese aufgrund einer nach deren Inkrafttreten erhobenen Klage ergangen sind. Dabei ist dem Wortlaut der Norm nicht zu entnehmen, ob insoweit das Inkraftsein bei Klageerhebung nur im Urteilsstaat ausreicht oder ob dieses auch im Anerkennungs- bzw Vollstreckungsstaat erforderlich ist (Letzteres zum Parallelproblem bei Art 66 I aF annehmend Becker/Müller IPRax 06, 432, 436; Kropholler/v Hein Rz 2a). Für die vergleichbare Problematik des Art 66 II aF hat der EuGH (C-514/10 – Wolf Naturprodukte/SEWAR, EuZW 12, 626 mit Anm Thomale IPRax 14, 239) bzgl des Inkrafttretens kumulativ auf Urteils- und Anerkennungs- bzw Vollstreckungsstaat abgestellt.
C. Klageerhebung vor Inkrafttreten (Abs 2).
Rn 3
Insbesondere für vor dem Stichtag erhobene Klagen ordnet Abs 2 die Fortgeltung der Ursprungsfassung der EuGVO (VO [EG]44/2001) an, welche am 1.3.02 in Kraft getreten war. Zu deren intertemporalen Eingreifen vgl die Kommentierung zu Art 66 aF in der 6. Aufl.
D. Parallelverfahren.
Rn 4
Denkbar ist insbesondere der Fall, dass von denselben Gegenstand betreffenden Klagen in verschiedenen Mitgliedstaaten die erste Klage gemäß Abs 2 nach der Ursprungsfassung (VO 44/2001) und die zweite gem Abs 1 nach der Neufassung (VO 1215/2012) zu beurteilen ist. In diesem Fall wird das später angerufene Gericht grundsätzlich nach Art 29 ff zu verfahren haben. Problematisch bleibt etwa der Fall des Art 31 II nF, der ggf für das zuerst angerufene Gericht nicht maßgeblich ist, während das zweite Gericht nach dem System der Neufassung ebenfalls nicht aussetzen soll.