Prof. Dr. Thomas Pfeiffer
Rn 4
Für Verträge begründet Nr 1 in unterschiedlicher Ausgestaltung einen Wahlgerichtsstand zugunsten des Klägers am vertraglichen Erfüllungsort. Die Vorschrift beruht zwar auf dem Gedanken der Sach- und Beweisnähe, greift aber aus Gründen der Rechtssicherheit und Zuständigkeitsklarheit auch ein, wenn es hieran im Einzelfall fehlt (EuGH Slg 94 I-2913). Für die Auslegung gilt insoweit das Prinzip der Konzentration, als es für dieselbe Verpflichtung idR nur einen Erfüllungsort geben soll. Deshalb hat der EuGH Nr 1 für unanwendbar gehalten, soweit es sich um eine überall zu erfüllende und damit nicht lokalisierbare Unterlassungspflicht handelt (EuGH Slg 02, I-1699).
Rn 5
Der Wortlaut der Vorschrift stellt allerdings sowohl auf den tatsächlichen Erfüllungsort (›erfüllt worden ist‹) als auch auf den vereinbarten Erfüllungsort (›zu erfüllen wäre‹) ab. Diese Alternative wird man nicht im Sinne eines Wahlrechts deuten dürfen, da eine Vervielfachung der Gerichtsstände unerwünscht ist. Deshalb muss man annehmen, dass es auf den tatsächlichen Erfüllungsort ankommt, wenn tatsächlich bereits erfüllt wurde. Fehlt es an einer bereits erfolgten tatsächlichen Erfüllung, ist der vereinbarte Erfüllungsort maßgebend. Für die nähere Bestimmung des Erfüllungsorts enthält die Vorschrift alsdann, je nach Fallgestaltung, unterschiedliche Maßgaben, die teils eine materiell-rechtliche (lit a und c), teils eine prozessual autonome Ermittlung anordnen (lit b):
Rn 6
Lit a enthält die allgemeine Regel zur Maßgeblichkeit des Erfüllungsorts, die nach lit c anwendbar ist, soweit nicht eine der Sonderregeln aus lit b eingreift. Maßgebend nach lit a ist der Erfüllungsort der jeweils eingeklagten Verpflichtung (EuGH Slg 76, 1497; Slg 87, 239). Die für Arbeitsverträge früher (heute gelten ohnehin Art 20–23) in der Rspr anerkannte Ausnahme eines für alle Verpflichtungen eines Vertrags charakteristischen Erfüllungsorts (EuGH Slg 82, 1891) lässt sich nicht verallgemeinern; es gibt keinen generell einheitlichen Erfüllungsortsgerichtsstand kraft Sachzusammenhangs (EuGH Slg 99, I-6747). Soweit sekundärvertragliche Rechte eingeklagt werden, ist der Erfüllungsort der verletzten Primärpflicht maßgebend (EuGH Slg 76, 1497; BGH NJW 16, 409 [BGH 16.10.2015 - V ZR 120/14]). Werden mehrere Verpflichtungen mit derselben Klage geltend gemacht, folgt die Zuständigkeit wegen etwaiger Nebenpflichten derjenigen für die eingeklagte Hauptpflicht (EuGH Slg 87, 239). Allerdings darf diese Ausnahme nicht überdehnt werden. So hat der EuGH bspw noch ausstehende Provisionsansprüche eines Handelsvertreters und dessen Entschädigungsanspruch wegen einer Kündigung als gleichrangig angesehen, so dass es keinen einheitlichen Erfüllungsort gebe (EuGH Slg 99, I-6747). Der Erfüllungsort wird materiell-rechtlich nach der sog Tessili-Regel bestimmt. Im ersten Schritt ist hierzu nach den IPR-Regeln des angerufenen Gerichts das anwendbare vertragliche Schuldrecht zu ermitteln. Nach diesem Schuldvertragsstatut ist im zweiten Schritt sachrechtlich der Erfüllungsort zu bestimmen (EuGH Slg 76, 1473; Slg 99, I-6307). Die Tessili-Regel gilt unabhängig von der Rechtsquelle (mitgliedstaatliches, drittstaatliches oder vereinheitlichtes Recht) und dem Rechtsinhalt, und zwar auch, soweit sie zu einem Klägergerichtsstand führt (EuGH Slg 94, I-2913). Macht der Kl mehrere konkurrierende Ansprüche mit unterschiedlichem Erfüllungsort geltend, so erstreckt sich die Zuständigkeit nur auf den im Forum zu erfüllenden Anspruch (EuGH Slg 99, I-6747). Die Rspr ist im Allgemeinen darauf gerichtet, keine übermäßige Vermehrung der Gerichtsstände zu ermöglichen; s.a. Rn 4.
Rn 7
Erfüllungsortsvereinbarungen unterscheiden sich von Gerichtsstandsvereinbarungen dadurch, dass jene lediglich iRd Art 7 Nr 1 einen zusätzlichen, nicht ausschließlichen Gerichtsstand begründen, wohingegen nach Art 25 eine ausschließliche Wirkung möglich ist. Außerdem bedarf es im Falle des Art 25 anders als beim Erfüllungsort keines Zusammenhangs zwischen dem Rechtsstreit und dem vereinbarten Forum. Erfüllungsortsvereinbarungen sind daher im Rahmen und nach Maßgabe des anwendbaren Vertragsrechts möglich und unterliegen nicht den für Gerichtsstandsvereinbarungen geltenden Erfordernissen des Art 25 (EuGH Slg 80, 89). Anders liegt es aber, wenn die Vereinbarung nur auf eine abstrakte, zur Gerichtsstandsbegründung dienende Vereinbarung zielt; dann gilt Art 25. Letzteres ist namentlich dann zu bejahen, wenn der vereinbarte Erfüllungsort keinerlei Bezug zur tatsächlichen Vertragsdurchführung aufweist oder wenn die geschuldete Leistung dort gar nicht erbracht werden kann (EuGH Slg 97, I-911; C-419/11). Maßgebend für das Zustandekommen und die Wirksamkeit von Erfüllungsortsvereinbarungen ist das auf den Vertrag anwendbare Recht nach Maßgabe der Rom I-VO (vgl EuGH Slg 80, 89 Rz 5).
Rn 8
Für Kaufverträge über bewegliche Sachen sieht lit b, 1. Spiegelstrich, einen europäisch-autonom definierten prozessrechtlichen Erfüllungsort vor. Ein Kaufvertrag in die...