Rn 18
Es ist nicht möglich, für alle in Betracht kommenden Kindschaftsverfahren in ihrer Vielschichtigkeit klare Vorgaben zu machen, ab wann ein Verfahren nicht beschleunigt durchgeführt wurde. Es ist nicht möglich, die Angemessenheit der Verfahrensdauer allein anhand statistischer Durchschnittswerte zu ermitteln. Der Gesetzgeber hat sich deshalb darauf beschränkt, auf den Gesichtspunkt des Kindeswohls als den Faktor hinzuweisen, der das Beschleunigungsgebot sowohl prägt als auch begrenzt: ›Beschleunigung ist kein Selbstzweck, sondern dient dazu, dass die Entscheidung in der Sache nicht durch bloßen Zeitablauf faktisch präjudiziert wird. Diese Gefahr besteht, weil sich während des Verfahrens Bindungs- und Beziehungsverhältnisse – einschließlich der Kontaktabbruch – verfestigen oder verändern können und eine zu späte gerichtliche Entscheidung sich den geänderten tatsächlichen Bindungen und Beziehungen nur noch beschreibend anpassen, diese aber nicht mehr im Sinne des ursprünglichen Kindeswohls gestalten kann‹ (BTDrs 18/9092, 19; Hambg FuR 17, 562; Stuttg FuR 18, 267; Karlsr FuR 18, 386).
Rn 19
Es ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, dh, es ist eine Gesamtabwägung aller verfahrens- und sachbezogenen Faktoren sowie der subjektiven, personenbezogenen Umstände vorzunehmen (Braunschw FamRZ 14, 59 zu § 198 GVG). Das Gericht muss eine hier relevante Verzögerung des Verfahrens unter Abwägung aller Faktoren (Gegenstand des Verfahrens, Alter und [insb psychische] Verfassung des Kindes, Komplexität des Falles, Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer auf alle Beteiligten und die Gründe für die Verzögerung – Verfahrensführung und -förderung durch das Gericht, Verhalten der Beteiligten) prüfen, ob die Rüge im konkreten Fall berechtigt ist (MüKoFamFG/Schumann § 155b Rz 10; Prütting/Helms/Hammer § 155b Rz 19; Bork/Jacoby/Schwab/Müller § 155b Rz 12; Keuter FamRZ 16, 1817, 1821; vgl auch BGH FamRZ 14, 933; Bremen FamRZ 18, 450). Wird die Rüge in der zweiten Instanz erhoben, ist zwar alleiniger Gegenstand die Verfahrensweise des OLG als Beschwerdegericht. Gleichwohl ist die gesamte Verfahrensdauer ab Anhängigkeit in der ersten Instanz in die Prüfung mit einzubeziehen, weil die Gesamtdauer des Verfahrens dafür maßgeblich sein kann, wie beschleunigt das Beschwerdeverfahren zu führen ist (vgl Keidel/Meyer-Holz § 155b Rz 6 mwN; Karlsr FamRZ 20, 1214).
Rn 20
Es ist zu berücksichtigen, dass andere Verfahrensgrundsätze, wie insb die Verpflichtung zum Hinwirken auf Einvernehmen und der Amtsermittlungsgrundsatz Auswirkungen auf die Verfahrensdauer haben können (Kobl FamRZ 18, 593). Wegen des dem Gericht bei seiner Verfahrensführung zukommenden Gestaltungsspielraums geht es nicht um die Überprüfung der Richtigkeit der Verfahrensführung des Gerichts, sondern die Beachtung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots des § 155 I durch eine daran ausgerichtete Verfahrensförderung (Stuttg FuR 18, 267). So ist die Entscheidung, ein zweites Gutachten einzuholen, eine mit der Beschleunigungsrüge nicht überprüfbare Sachentscheidung des entscheidenden Gerichts (KG FuR 17, 456).
Rn 21
Umstände, aus denen sich eine verzögerte und nicht vorrangige, beschleunigte Bearbeitung ergeben kann, sind beispielsweise (vgl Keuter FamRZ 16, 1817, 1819):
- verspätete Zuständigkeitsprüfung,
- fehlende oder verspätete Anberaumung eines Termins gem § 155 II (vgl aber KG FuR 17, 456: nicht bei nachvollziehbarer Begründung – Urlaubsvertretung terminiert nicht aufgrund weiterer 17 Verfahren der Eltern zum Umgangs- und Sorgerecht innerhalb der letzten 5 Jahre; Ddorf 9.1.18 – II-1 WF 276/17, juris: Erörterungstermin mehr als 2 Monate nach Eingang des verfahrenseinleitenden Antrags ist nicht als unvertretbar zu bewerten, wenn sich die Beteiligten erst kurze Zeit vorher auf eine Umgangsregelung verständigt hatten; vgl auch OLG Bremen FuR 17, 614),
- fehlende oder verspätete Anhörung von Kind, Eltern, Jugendamt, Verfahrensbeistand,
- Terminverlegungen ohne zwingenden Grund bzw Glaubhaftmachung, § 155 II 4, 5; anders bei sachlich begründeter Teminverlegung (Bremen FuR 17, 614),
- Anforderung eines Kostenvorschusses vor Beauftragung eines Gutachters (Saarbr FuR 12, 560; Stuttg FamRZ 16, 2144),
- unterlassene oder zu großzügige Fristsetzung bei Gutachteraufträgen (Hambg FuR 17, 562; vgl aber auch KG FuR 17, 456: Das Unterlassen einer Fristsetzung für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens kann dann nicht zu einer Verletzung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots führen, wenn das Gericht auf eine zeitnahe Erledigung drängt bzw sachgerechte Gründe für eine Verzögerung gegeben sind. Nach einer Entscheidung des OLG Bremen (FuR 17, 269) liegt kein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor, wenn zwischen Erlass und Zustellung des Beweisbeschlusses ein Monat vergangen ist,
- unterlassene Erinnerung bei verzögerter Gutachtenerstellung: Gutachten liegt nach 22 Monaten nicht vor; das Gericht hat in den ersten 11 Monaten nicht auf Erstellung hingewirkt (vgl Hambg FuR 17, 562),
- verspätet...