Rn 9
Liegen die in Abs 1 oder 2 geregelten Voraussetzungen für die persönliche Anhörung eines Kindes vor, muss sie erfolgen. Nach Abs 3 S 1 darf das Gericht von der Anhörung nur aus schwerwiegenden Gründen absehen. Angesichts der vielfältigen, in Betracht kommenden Ausnahmegründe hat der Gesetzgeber von einer Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals abgesehen (BTDrs 16/6308, 428). Die Regelung erfordert eine Abwägung des Interesses an einer eingehenden Sachaufklärung gegen das Interesse des anzuhörenden Kindes, von der Anhörung freigestellt zu werden; je bedeutsamer der mögliche Eingriff in die Rechtssphäre des Kindes ist, umso stärker ist die Pflicht zur Anhörung (BGH FuR 19, 103; Keidel/Engelhardt § 159 Rz 11; Prütting/Helms/Hammer § 159 Rz 9; Musielak/Borth/Borth/Grandel § 159 Rz 5). Im Rahmen der Interessenabwägung ist auch zu berücksichtigen, inwieweit es möglich ist, durch die Auskunft anderer Verfahrensbeteiligter, wie etwa des Verfahrensbeistands, des Umgangs- bzw. Ergänzungspflegers oder eines Mitarbeiters des Jugendamts, verlässlich zu erfahren, welche Neigungen, Bindungen oder Wünsche das Kind hat (BGH FuR 19, 103).
Rn 10
Will das Gericht im Einzelfall von der persönlichen Anhörung eines Kindes absehen, müssen die tragenden Gründe hierfür in der Endentscheidung dargelegt werden (Frankf FamRZ 15, 1521; Celle FamRZ 13, 1681; Brandbg FamRZ 03, 624). Der pauschale Hinweis auf eine mit der persönlichen Anhörung verbundene erhebliche Belastung des Kindes genügt nicht (vgl BVerfG FamRZ 09, 1472).
Rn 11
Die Anhörung eines Kindes ist für das Gericht eine hervorragende Erkenntnisquelle, weil sie es dem Gericht ermöglicht, einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind, seinen Neigungen, Bindungen oder Vorstellungen zu bekommen (vgl FAKomm-FamR/Ziegler § 159 Rz 8) – nicht selten auch davon, dass ein Kind bereits durch einen Elternteil erheblich beeinflusst worden ist, was ebenfalls für die zu treffende Entscheidung eine wichtige Information sein kann.
Rn 12
Vor dem Hintergrund der Bedeutung der persönlichen Kindesanhörung ist die Regelung orientiert am Kindeswohl auszulegen und bei Vorliegen triftiger, das Wohl des Kindes nachhaltig berührender Gründe anzuwenden (Braunschw FamRZ 19, 119). Schwerwiegende Gründe, die ein Absehen von der Kindesanhörung rechtfertigen können, liegen dementsprechend insb dann vor, wenn die Gefahr besteht, dass das Kind durch die Anhörung in einer mit seinem Wohl nicht zu vereinbarenden Weise psychisch belastet wird (vgl Hamm FamFR 12, 93; Stuttg FamRZ 13, 1318) bzw wenn die Anhörung des Kindes zu einer erheblichen Beeinträchtigung seiner körperlichen oder seelischen Gesundheit führen würde (BTDrs 16/6308, 428; Keidel/Engelhardt § 159 Rz 12; Prütting/Helms/Hammer § 159 Rz 10; FAKomm-FamR/Ziegler § 159 Rz 8; BGH NJW-RR 86, 1130; FuR 19, 103; Braunschw FamRZ 19, 119: schwere manipulative Beeinflussung des Kindes durch einen Elternteil; Köln FamRZ 97, 1549; MüKoFamFG/Schumann § 159 Rz 6 f; Zö/Lorenz § 159 Rz 4; Keidel/Engelhardt § 159 Rz 12). Dabei hat das Gericht vorab zu prüfen, ob eine zu erwartende gesundheitliche oder seelische Belastung für das Kind nicht durch eine schonende Ausgestaltung der persönlichen Anhörung ausreichend gemindert werden kann (Köln FamRZ 97, 1549; Carl FamRZ 16, 240, 245).
Rn 13
Die mit jeder gerichtlichen Anhörung für das Kind verbundene Belastung rechtfertigt ein Absehen hiervon nicht; diese Beeinträchtigung hat der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen (BayObLG FamRZ 87, 87; Brandbg 29.8.12 – 3 UF 77/12, juris). Regelmäßig ist die Anhörung des Kindes durch das Gericht deutlich weniger belastend als die nicht selten gravierenden Beeinträchtigungen durch den Elternstreit.
Rn 14
Ein schwerwiegender Grund für das Absehen von der Anhörung des Kindes liegt ebenfalls nicht vor, weil die Eltern auf die Anhörung des Kindes verzichtet haben (BGH FuR 11, 401; München FamRZ 10, 486; Rostock FamRZ 07, 1835) oder sie dies nicht wünschen (Zweibr FamRZ 09, 246; Oldbg FuR 09, 645); die dem Gericht obliegende Amtsermittlung unterliegt nicht der Disposition der Beteiligten (BGH FuR 11, 401). Haben Eltern ihre Einwilligung in den Sorgerechtsentzug erklärt, ist dies für die zu treffende Entscheidung ohne materielle Bedeutung, da die Eingriffsvoraussetzungen nach §§ 1666, 1666a BGB gleichwohl geprüft werden müssen; deshalb kann von der Anhörung des Kindes nicht abgesehen werden (Ddorf, Beschl v 19.12.14 – II-7 UF 154/14, juris). Gleiches gilt bei Einvernehmen der Eltern hinsichtlich der zu treffenden Sorgeregelung, zB nach § 1671 Abs 1 S 2 Nr 1 BGB; auch hier ist eine Kindesanhörung schon im Hinblick auf §§ 1671 Abs 4, 1666 BGB erforderlich (vgl PWW/Ziegler § 1671 BGB Rz 12).
Rn 15
Von der Anhörung des Kindes kann nicht abgesehen werden, weil in einem Sorgeverfahren ein Elternteil wegen ständig wechselnder Aufenthaltsorte und mangelnder Kooperationsbereitschaft oder -fähigkeit für das Gericht nicht greifbar ist (Oldbg FuR 18, 370).
Rn 16
Gleiches gilt, wenn der betreuende Elternteil und ...